Jeder Schreiber tut sich schwer damit, einen stark lektorierten Text zu akzeptieren. Wie mies muss sich Raymond Carver gefühlt haben, wenn seine Kurzgeschichten von Gordon Lish, dem Lektor des Magazins «Esquire», bearbeitet wurden!

Gordon Lish strich Sätze, Abschnitte, ja ganze Seiten aus Carvers Manuskripten. Doch offenbar hatte er ­einen publikumswirksamen Riecher. Denn die Lesenden priesen Carver (1938–1988) als Erneuerer der Shortstory. «Sein» lakonisch-cooler Stil kam ebenso an wie seine Helden: Underdogs, Verlierer, Alkoholiker aus der Mittel- und Unterschicht der US-amerikanischen Grossstädte in den 1960ern und 1970ern.

Weltweit bekannt wurde Carver 1993, als der Film «Short Cuts» in die Kinos kam. Regisseur Robert Altman griff darin auf drei von Carvers Kurzgeschichten zurück, die 1981 im Sammelband «What We Talk About When We Talk About Love» herausgekommen waren. Bereits 1989 erschien diese Sammlung in deutscher Übersetzung bei Piper.

Etwa zur selben Zeit wurden einzelne von Carvers Geschichten in ihrer ursprünglichen Form publiziert, also ungekürzt und vor den Eingriffen von Lektor Gordon Lish. Mit «Beginners. Uncut» ist vor kurzem die Sammlung seiner wichtigsten Kurzgeschichten im Original erstmals auf Deutsch erschienen. Ein gefundenes Fressen für Carver-Fans, die sich nun ans Vergleichen der beiden Versionen machen können. Mit dem Risiko freilich, ihren Helden als entzauberten Literaten wiederzufinden.


[Buch]
Raymond Carver
«Beginners. Uncut»
Originalversion
362 Seiten
(Fischer 2012).
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