Früher hatte es ein Komponist leichter. Die Form seiner Stücke war vorgegeben – Sonate, Fuge, Suite. Die Hörer wussten ungefähr, was sie erwartete, und ein Titel war damit auch gleich gefunden. Heutzutage hat es der Komponist schwerer: Nicht nur muss er sich von der Pike auf selbst entscheiden, wie er sein Werke aufbauen will. Er steht auch unter Zugzwang, dem Publikum eine wortreiche Orientierungshilfe durch das neu Erdachte mitzuliefern.
Zwei Zeitgenossen, die sich dieses zweiten Problems entledigen, sind der 54-jährige Schweizer Dieter Ammann und der 47-jährige Deutsche Enno Poppe. Die beiden Shootingstars des aktuellen Konzertlebens, denen das Mondrian Ensemble nun ein Doppelporträt widmet, beziehen ihre Werktitel aus dem Kompositionsprozess.
«Gehörte Form – Hommages» nennt Ammann sein Streichtrio von 1998. Die «Hommages» gelten György Ligeti, Wolfgang Rihm und Arnold Schönberg. In Anlehnung an ihr Werk entwickelt Ammann das musikalische Material, dem die Form «abgehört» wird, statt sie als traditionelles Zwangskorsett überzustülpen. Mit dem Titel gibt Ammann einen Anhaltspunkt und eröffnet zugleich weite gedankliche Räume für sich selbst. Das gilt auch für die Hörer, die nie sicher sein können, was auf sie zukommt, und sich unwillkürlich im Sog der Neugier finden.
Mittels Informationskernen Möglichkeiten abklopfen
Bei Enno Poppe fallen die Titel knapper aus. «Trauben» lautet einer seiner meist losen Hinweise auf strukturelle Assoziationen, die dem Werk zugrunde liegen könnten – oder auch nicht. So wirft das 2004/05 entstandene Klaviertrio kurz die notwendigsten Informationskerne in die Runde – einen Akkord, ein Glissando –, die anschliessend ausführlich auf ihre Möglichkeiten hin abgeklopft werden. Der Komponist bemerkt dazu lakonisch: «Zunächst sollte das Stück ‹Kerne› heissen, was aber zu dürr klingt. Trauben sind saftig.» Das soll reichen. Den Rest sollen des Hörers Ohren und Fantasie erledigen.
Wie Ammann gewährt auch Poppe mit seinen Titeln lediglich einen Ausgangspunkt. Wie Ammann ist er in den 1960er-Jahren geboren, wie dieser in einem musikalischen Umfeld aufgewachsen. Erst eine Generation später trat das Mondrian Ensemble in Erscheinung.
Energie und Virtuosität als Antrieb
2000 gegründet, nimmt sich das Mondrian Ensemble der Verbindung von zeitgenössischer Musik und klassischem Repertoire an. In der Ensemble-Geschichte ist Ammann ein roter Faden: «Dieter war sehr wichtig für das Ensemble», sagt Pianistin Tamriko Kordzaia. «Erste Erfolge waren mit der Aufführung seiner Musik verbunden. Uns reizt ihre Energie, ihre Virtuosität. Instrumental bringt sie den Interpreten an seine Grenzen, aber wenn es gelingt, dann eben auch darüber hinaus …» Eine weitere Eigenschaft, welche die Musik des Schweizers Dieter Ammann mit der des Deutschen Enno Poppe verbindet. Hier enden jedoch die Parallelen.
Poppe wollte schon früh Komponist werden und steht als Dirigent zeitgenössischer Musik auf der Bühne. Ammann machte dagegen zunächst einen Umweg über den Jazz, bis er zu einer komponierten Musik fand, deren Entstehungsprozess sich kaum stärker von dem Enno Poppes unterscheiden könnte. «Imagination Against Numbers» untertitelt Ammann sein «Piece for Cello» von 1994/1998. «Nummern» als Symbol für Vorgaben, die sich der Komponist auferlegt und doch minimal halten will um der «Vorstellungskraft» willen, mit der er alle erdenklichen Formen der Tonerzeugung durchspielt.
Für Poppe hingegen ist strenge Form das Mittel, Ideen systematisch auszutesten. Ist seine Musik zu Papier gebracht, gibt er sie zur Überprüfung in den Computer ein, weil ihre komplexen mikrotonalen Strukturen die Vorstellungskraft übersteigen. Er spricht lieber über Algorithmen als über Wirkung. Was in Poppes Worten oft klingt wie der Lösungsweg zu einer logischen Gleichung, klingt jedoch im Ergebnis bei einem Werk wie «Trauben» kraftvoll und kommunikativ. Und der Glissandi-Exzess in «Haare» (2013/14) für Violine solo ist schwer vorstellbar ohne die unbedingte Expressivität, die er dem Interpreten abverlangt.
Komplexe Musik ist der gemeinsame Nenner
Der Intensitätsgrad ist es, in dem sich die Musik der beiden Komponisten annähert. Tamriko Kordzaia bringt es auf den Punkt: «Poppes Musik ist extrem kompakt, aber auch unglaublich energiegeladen. Seine musikalische Sprache ist reduzierter, Dieter Ammann dagegen setzt alle Hebel in Bewegung. Beide sind auf sehr unterschiedliche Art komplex.»
Imagination Against Numbers
Di, 13.12., 20.00 Villa Streuli Winterthur ZH
Mi, 14.12., 20.00 Gare du Nord Basel
So, 18.12., 20.00 Kunstraum Walcheturm Zürich
Di, 20.12., 20.00 Neubad Luzern
www.mondrianensemble.ch