«Bist du ein Junge oder ein Mädchen?» Mit dieser Frage sehen sich viele androgyne Heranwachsende konfrontiert. Aber was antwortet man darauf, wenn man sich weder als Mann noch als Frau identifiziert? «Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ein Körper zu sein», schreibt Kim de l’Horizon in «Blutbuch» – und versucht mit kraftvollen Worten, diese Binarität der Geschlechter zu durchbrechen.
Im fragmentarischen Roman, der für den Schweizer Buchpreis (S. 6/7) nominiert ist, gelingt dies mit einer unkonventionellen, poetischen Sprache – die «Gross-Mère » wird hier zum «Grossmeer ». Kim de l’Horizons eigenwillig strukturierte Erzählung ist eine bruchstückhafte Rückschau auf die Kindheit, eine Einordnung der persönlichen Familiengeschichte und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der nonbinären Identität.
Lässt man sich auf die ungewöhnliche Erzählweise ein, ist «Blutbuch» ein intimes, berührendes Porträt einer Person, die sonst selten als Hauptfigur in Romanen auftaucht.
Jenseits gängiger Verlagsstrukturen
Queere Literatur ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Doch in den vergangenen Jahren wurde die Bandbreite grösser, das Angebot sichtbarer. Einen Einblick in das vielseitige kreative Schaffen liefert das seit 2017 jährlich erscheinende kuratierte Magazin «Glitter». Die nach eigenen Angaben «erste und einzige queere Literaturzeitschrift im deutschsprachigen Raum» bietet quee- ren «Autor*innen » eine Plattform: Das Gendersternchen schliesst sämtliche Identitäten ein, die in die Lücke zwischen das binäre Mann- Frau-System fallen. Der Verein «Glitter» veröffentlicht Kurzgeschichten, Essays und Gedichte unabhängig von traditionellen Ver- lagsstrukturen.
Sowohl Kim de l’Horizon als auch die letztjährige Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, Antje Rávik Strubel, haben Texte in dem Magazin veröffentlicht. Der Verein betont immer wieder: Obschon sich queere «Autor*innen» in ihren Texten vornehmlich mit der eigenen Lebenswelt auseinandersetzen, greifen viele auch universale Themen auf, die alle etwas angehen.
Offener Umgang mit Sexualität
Die queere US-Autorin Lillian Fishman etwa dehnt in ihrem Debütroman «Grosse Gefallen » in einer expliziten Sprache das Verständnis von Sexualität und reflektiert weibliche Selbstermächtigung. Eve Cook, die lesbische Protagonistin, sehnt sich nach einem unverbindlichen Abenteuer und beginnt eine Affäre mit einem heterosexuellen Paar. Schon bald finden sie sich in einer polyamoren Dreiecksbeziehung wieder und testen ihre emotionalen, moralischen und sexuellen Grenzen aus.
Grenzüberschreitend ist auch der Debütroman «Detransition, Baby» von Torrey Peters. Die US-Autorin hinterfragt heteronormative Familienstrukturen. Im Mittelpunkt steht das Gefühlschaos von trans Frau Reese, die mit Amy, ebenfalls trans, eine lesbische Liebesbeziehung führt. Doch als Amy sich dazu entscheidet, wieder als Mann zu leben, trennt sich das Paar. Erst drei Jahre später nähern sich die beiden in einer unkonventionellen Konstellation wieder an und loten dabei die Möglichkeiten neuer Familienmodelle aus.
Humorvoll und in lockerem Ton macht Peters spürbar, was es heisst, als trans Frau zu leben. Gleichzeitig blickt sie hinter die queere Identität ihrer Protagonistin. Denn Reese ist eben nicht nur eine trans Frau, sondern auch eine rastlose Mittdreissigerin ohne Karriereplan. Und so entlarvt Peters mit ihrer Erzählung auch das Konfliktpotenzial traditioneller Rollenverteilung.
An ein jüngeres Lesepublikum richtet sich Kacen Callenders Coming-of-Age-Roman «Felix Ever After». Felix Love, ein 17-jähriger trans Junge aus New York, weiss gar nicht, wohin mit seinen Gefühlen: Während er sich nach dem Kribbeln der ersten grossen Liebe sehnt, muss er sich gegen Transfeindlichkeit wehren.
In leicht verständlicher, jugendlicher Sprache führt der Roman behutsam an die komplexe Gefühlswelt queerer Menschen heran und streift darüber hinaus den Umgang mit sozialer Ungleichheit.
Einblick in diverse Lebenswelten
Queere Romane, die Einsichten in andere Lebenswelten gewähren, sind angesichts der Anfeindungen, denen auch Kim de l’Horizon ausgesetzt ist, wichtig. Die Geschichten rücken die Erfahrungen marginalisierter Gruppen jenseits heteronormativer Strukturen in den Mittelpunkt.
Das ist nicht nur bestärkend für lesbische, schwule oder trans «Leser* innen», die sich in den Figuren wiedererkennen. Queere Erzählungen zeigen einem breiten Publikum vielfältige Sichtweisen auf, sie eröffnen neue Blickwinkel und sorgen dadurch für mehr Verständnis und Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft.
Literaturmagazin «Glitter»
www.glitter-online.org
Bücher
Kim de l’Horizon - Blutbuch
336 Seiten (Dumont 2022)
Torrey Peters - Detransition, Baby
Aus dem Englischen von Frank Sievers, Nicole Seifert
464 Seiten (Ullstein 2022)
Lillian Fishman - Grosse Gefallen
Aus dem Englischen von Eva Bonné
256 Seiten (Hoffmann und Campe 2022)
Kacen Callender - Felix Ever After
Aus dem Englischen von Maike Hallmann
363 Seiten (LYX 2021)