Die Winterzeit ist Hochsaison für Caquelongerichte, die man gerne miteinander teilt und zusammen einnimmt. Dazu hatte ich schon vor der Pandemie eine klare Haltung: Der Austausch von Körperflüssigkeiten gehört ins Schlafzimmer und nicht an den (gedeckten) Esstisch. Wäre das also geklärt. Folgende Fragen stellten sich für die aufgezwungene Familienjahreszusammenkunft: Wer ist geimpft, genesen oder gewesen, und wie ist mit Verwandten umzugehen, welche ihre ID vergessen haben? Was für die einen oder anderen ein wenig übertrieben klingen mag, ist eingetreten. Ich sah es kommen, noch bevor der Bundesrat den Beschluss fasste, dass auch im Familienkreis Covid-Zertifikate zu überprüfen seien.
Die wichtigste Frage aber war: Welches Familienmitglied (Verwandtschaftsgrad egal) übernimmt die zentrale Rolle des Gatekeepers in den Family-Members-Only-Club beim Einlass in die noch gute Stube? Die Eigenverantwortung begann also schon mit der Auslagerung der Verantwortung an den Gatekeeper, der selbstverständlich neutral sein musste, nichts mit der Familie zu tun, keine eigene Meinung hatte und ausschliesslich rational handelte. Meiner Ansicht nach ist dieser Aufgabe nur eine Maschine gewachsen. Prima Idee, wirklich, aber ist Onkel René auch wirklich Onkel René, auch nach seiner Geschlechtsumwandlung? Kann die Maschine solche Finessen auch beurteilen? Im Prinzip ist das egal, denn es gilt: Ausweisen oder ausweisen. Natürlich war es ein wenig umständlich, dass Onkel René zwei Stunden nach Hause fahren musste, um die ID seines neuen Partners zu holen, vor allem, da dieser im Rollstuhl sitzt. Aber das sind halt die Regeln des BAG und die Weisung der Maschine. Jetzt musste der neue Partner vier Stunden vor der Türe warten, bis Onkel René wieder zurück war; unangenehm, aber zum Glück hatte er wenigstens seinen eigenen Stuhl dabei.
Ich war schon vor dem Beschluss des BAG bestens vorbereitet und habe allen Kontakten (anwesend oder nicht) vor den Feiertagen einen Fragebogen zugestellt, wie man ihn bei der Einreise in Hochrisikogebiete kennt. Darauf waren allgemeine Standardfragen zu beantworten wie beispielsweise: Wo und mit wem haben Sie sich in den letzten zwei Wochen herumgetrieben? Hängt in Ihrer Garderobe neu neben den Funktionstextilien ein Shirt der Freiheitstrychler? Sind Ihre Tinder-Matches auch Telegram- Matches? Empfiehlt Ihnen der Google-Algorithmus öfter mal Rezepte von Attila Hildmann, hoch dosiertes Vitamin D oder Pferde-Entwurmungsmittel?
In den allerseltensten Fällen surfen alle Familienmitglieder auf der gleichen Welle, und ich wollte verhindern, dass nach dem Weihnachtsfestmahl das nächste Mal vielleicht ein Leichenmahl wird. Für Superspreader und Agnostiker gab es bei mir eine Sonderregelung. Sie wurden bei Einlass direkt von ihren Erziehungsberechtigten getrennt und für den Rest des Heiligabends in einem Séparée im Untergeschoss ruhiggestellt. Zu jeder vollen Stunde wurden durch ein Katzentor Speis, Trank und jeweils ein Geschenk gereicht.
Nachdem alle Eintrittsformalitäten geklärt und die Spreu vom Weizen getrennt waren, konnten die Festivitäten unbeschwert beginnen. Obacht: Kein Brot ohne Spiele. Hier ein Vorschlag für ein coronakonformes Spiel mit dem Titel «Wahrheit oder Pflicht», das bei jeder künftigen Festivität gespielt werden kann. Jedes Familienmitglied bringt eine Zehnerpackung Einwegmasken mit. Der oder die Spielleiter/in lädt eine App runter mit den Fakten zur Covid-Pandemie. Jetzt behaupten alle Spielerinnen und Spieler der Reihe nach etwas über Covid, und die App sagt, ob das wahr ist oder gelogen. Bei Fake News leuchtet der Bildschirm sofort rot auf, und die Spielerin muss eine Maske überziehen. Wer zuerst alle zehn Masken übereinanderträgt, hat erstens verloren und ist zweitens als Corona-Leugnerin entlarvt. Zudem wird für diese Person die Luft mit jeder zusätzlichen Maske immer dünner. Was dann drittens zur Folge hat, dass kein verbaler Durchfall mehr zu erwarten ist. Somit steht einem keimfreien, harmonischen und glücklichen Familienfest nichts mehr im Weg.
Muss es denn so kompliziert sein? Nein, es gibt eine Impfung. Geht das jetzt immer so weiter? Ja. Wenn wir weiterhin Wellen der Eigenverantwortung schlagen, geht das unter Umständen noch lange so weiter, denn wir sind jetzt erst bei Omikron, danach folgen im griechischen Alphabet weitere acht Buchstaben bis zum Omega. Dass man auf Kurven steht, kann ich durchaus nachvollziehen, aber nicht im pandemischen Kontext. Es ist genauso, wie die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim auf dem Youtube-Kanal Mai-Lab sagt: Ich bin mütend, müde und wütend. Schon wieder ein Pandemiejahr vorbei, und was haben wir daraus gelernt? Einiges und doch nichts. Ich habe gelernt, dass wir Menschen keine Herdentiere sind, darum haben wir auch keine Herdenimmunität. Als ich mich 2019 rückwirkend selbständig gemeldet habe, ist mir ein fataler Fauxpas passiert. Ich habe mich grob verkalkuliert, so grob, dass ich das noch heute zu spüren bekomme. Ich habe mit allen möglichen Risiken einer Selbständigkeit gerechnet – ausser einer Pandemie. Wie konnte ich nur so naiv sein und das nicht einkalkulieren? Es gab doch bereits die Spanische, die Vogel- und die Schweinegrippe. Natürlich hätte ich damit rechnen müssen, dass vielleicht schon die nächste Pandemie ausbricht. Jetzt haben wir das Jahr 2022, und mit den neuen Fallzahlen falle auch ich wieder durch alle finanziellen Corona-Rettungsmaschen zurück zum Anfang, dem Jahr 2019.
Schlechtes Timing ist eben auch: Eigenverantwortung. Am liebsten wird Eigenverantwortung aber in die Spitäler ausgelagert, da wird Ärztinnen und Pflegern die Triage zugemutet. Kann das eine Gesellschaft und ein Staat verantworten? Offensichtlich. Frohes neues Jahr!
Rebekka Lindauer
Rebekka Lindauer ist in Athen und Zürich aufgewachsen. Die Haute-Couture-Schneiderin hat nur einen Tag nach Lehrabschluss das Handwerk gegen ihr Mundwerk eingetauscht. Die Kabarettistin, Autorin und Musikerin ist mit ihrem ersten Soloprogramm «Héroïne» auf den Schweizer Bühnen unterwegs. Ab Do, 13.1., ist sie mit Nils Althaus, Lisa Christ, Les Trois Suisses und anderen Satirikern im Jahresrückblick «Bundesordner 2021» im Casinotheater Winterthur zu sehen.