«Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir jedoch die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen.» So beginnt Raoul Schrotts Erzähltext, mit einer Sentenz, wie sie jedem der folgenden 32 Kapitel vorangestellt ist. Ein Mann reflektiert Geschehenes, er berichtet, was er aus der Erinnerung abruft. Es ist keine Chronologie der Ereignisse, mehr eine dem Zufall verpflichtete Ordnung.

Die Erinnerungen könnten, so ist zu vermuten, teilweise fantasiert sein. Denn es sind Aufzeichnungen aus der (psychiatrischen) Anstalt, die der Ich-Erzähler auf Geheiss seines Arztes an seine Tochter richtet.

Das Kind mit Namen Isa schweigt. Nicht nur, weil sie diesen langen Brief ihres Vaters ja erst erhalten wird. Auch hier, wie beim Vater, hat die Beziehungsgeschichte Folgen in Form von beschädigtem Leben: Es ist der Mutismus, ein Verstummen als Rückzugsstrategie.

Der Fall: Die Mutter hat dem Vater den Kontakt mit seiner Tochter verweigert. Dar­an wird der Mann zerbrechen («Dir ein Vater sein zu wollen, ohne es zu dürfen, zerriss mich»). Was als Geständnis, Bekenntnis, Beichte formuliert wird, tönt in Raoul Schrotts Erzählung mitunter raunend-gestelzt. Das dürfte allerdings nicht dem Autor als Mangel vorgeworfen werden – es ist der Erzählton der Perspektive des Protagonisten, der aus der Klinik schreibt. Die Geschichte birgt am Ende Geheimnisvolles in anregender Irritation: Wer ist Opfer, was ist wahr, was erfunden?


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Raoul Schrott
«Das schweigende Kind»
199 Seiten
(Carl Hanser
Verlag 2012).
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