Rabenschwarz ist es unter der Augenbinde. Und dann grüsst unvermittelt eine Frauenstimme aus den Kopfhörern. Was folgt, ist eine berührende und zugleich herausfordernde Klangreise. An der Hand einer Begleitperson werden Teilnehmer beim Audiowalk «Beyond Vision» blind übers Gaskessel-Areal in Bern geführt – auf den Ohren die räumlich klingenden Aufnahmen von Audiokünstlerin Ilona Marti. Binaurale Tonaufnahmen sind zentral in ihrer Arbeit. Die Technik ist ausgesprochen simpel, aber bewährt: Aufgenommen wird mit zwei Mikrofonen, welche die 37-jährige Wahlberlinerin statt in den Händen in den Ohren trägt. Da Klänge dort mit unterschiedlicher Verzögerung ankommen, entsteht beim Abhören auf Kopfhörern ein räumliches Hörerlebnis.
Dank Plattform mehr Publikum erreichen
Das fährt ein. Mal wie Kindheitserinnerungen, mal wie Drogentrips, sagen ehemalige Teilnehmer. Wer sich dabei nicht fallen lasse, reagiere aber schon mal enttäuscht, meint Ilona Marti: «Der Audiowalk ist keine inhaltlich intellektuelle Auseinandersetzung, sondern ein fast meditatives Reiseerlebnis, das Vertrauen, Ängste und die eigene Wahrnehmung auslotet.»
Geplant war «Beyond Vision» fürs Sonohr 2021, der Pandemie wegen wurde es verschoben. Nun kann die Ursprungsidee des Festivals, eine Plattform für aufwendige Audioproduktionen zu schaffen, endlich wieder vor Ort erlebt werden. Ganz am Anfang standen vier Hörspielmacherinnen und -macher, deren Stück zwar im Radio ausgestrahlt wurde, das anschliessend aber zu versanden drohte. Nationale Hör- oder Hörspielfestivals existierten schlicht keine.
18 facettenreiche Stücke sind im Wettbewerb
Um eine Plattform zu schaffen und mehr Publikum zu erreichen, riefen sie 2011 das Sonohr Radio & Podcast Festival ins Leben. Lucia Vasella (*1979), heute Programmleiterin, ist eines von zwei verbliebenen Gründungsmitgliedern. Sie vergleicht packende Features und Hörspiele mit dramaturgisch durchdachten Dokumentar- oder Spielfilmen. Ohne Töne geht für die Bernerin nichts: «Neben Musik und Worten sollen auch die auditiven Möglichkeiten ausgenützt werden; klingt ein Ort, soll man das hören und nicht nur darüber sprechen.»
So wie im Wettbewerbsbeitrag «Vom Glück vergessen» ein Kuhstall hörbar wird. Christina Caprez und Tanja Tietmann erzählen in diesem Feature die wahren Schicksale von Verdingbub Ruedi, der jenischen Uschi und des Gelegenheitsdiebs Florian, die allesamt vom Pech verfolgt werden. Im ebenfalls nominierten Stück «Elsa» lässt This Wachter mittels eines roten Büchleins die verstorbene Grossmutter in völlig neuem Licht dastehen. Und die Hörspielserie «Nachts ist es leise in Teheran» von Lia Schmieder und Jakob Lorenz nach Shida Bazyars Roman gibt einem kommunistischen Revolutionär im Iran nach 1979 eine Stimme.
18 facettenreiche Stücke sind für den diesjährigen Wettbewerb nominiert. Übertragen werden sie – man hat aus der Corona-Situation gelernt – erneut auch auf sieben Radiosendern. Für Lucia Vasella aber lockt das beste Hörerlebnis nach wie vor im Kino Rex.
Podcasts kann man sich heute kaum mehr entziehen. Eher verlieren sich Interessierte im überbordenden Angebot. In den vergangenen zwei Pandemiejahren wurden Tausende Podcasts lanciert. Vasella bezweifelt, dass alle durchhalten: «Momentan geht der Trend noch nach oben, doch wie lange, ist schwierig zu sagen. Die Einführung ist das eine, dann aber regelmässig zu veröffentlichen und Marketing zu betreiben, wird teilweise unterschätzt.» Momentan befänden wir uns in einer Ausprobier-Phase: Anders als in den USA ist der Schweizer Markt kaum kommerzialisiert, hier wird munter experimentiert. Kulturveranstalter, NGOs oder Organisationen starten eigene Podcasts – die Vielfalt wächst. Und damit auch die Hörerschaft: Laut dem «Reuters Digital News Report 2021» haben im vergangenen Jahr 35 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer «im letzten Monat einen Podcast gehört». 2020 waren es noch 32 Prozent. Lucia Vasella überrascht das wenig: «Wer Podcasts für sich entdeckt und merkt, das ist praktisch und kann unterwegs gehört werden, der bleibt dabei.»
Fördermodelle wie in der Filmindustrie angestrebt
Neuerdings werden Podcasts auch in Ausbildungen integriert, so etwa in den Studiengang «Kulturmanagement» an der Uni Basel. Wie aber steht es um Fördergelder oder eine Lobby? Fehlanzeige. Jetzt tut sich aber was: 2020 wurde am Sonohr die Idee angestossen, dass Audio- und Podcastproduzierende sich vernetzen, um Finanzierungen voranzutreiben und sich besser in der Kulturbranche zu verankern. «Wie für Bücher sollte auch für aufwendige Audioproduktionen Geld beantragt werden können», bringt Vasella das Anliegen auf den Punkt. Im letzten Herbst wurde der Verein «eCHo» (www.echo-audio.ch) gegründet. Bereits überlegt man sich Fördermodelle und nimmt Kontakt mit Stellen wie dem Bundesamt für Kultur auf. Am Festival treffen sich die Mitglieder erneut, um über Finanzierungsmöglichkeiten zu diskutieren. Sowieso werden am Sonohr nicht nur Hörer, sondern auch Macherinnen angesprochen: etwa mit Online-Masterclasses, bei denen Produzenten von ihren Erfahrungen berichten.
Aufführungen auch live vor Publikum
Lucia Vasella ist besonders gespannt auf die US-amerikanischen Gäste von «The Stoop». Hana Baba und Leila Day zeichnen ihren «Blackness»-Podcast, für den sie zuvor in der Schweiz Geschichten aus der schwarzen Diaspora recherchieren, live vor Publikum auf. Generell brechen die Macherinnen aus klassischen Hörsituationen aus: Der ursprünglich als Bühnenstück geplante Audiowalk «Piazza della Solitudine» wird in die Innenstadt versetzt, beim Dokstück «The Voice of Jackal» lauschen Teilnehmer im Wald der Migrationsgeschichte von Schakalen durch Europa. Ohne führende Hand – mit offenen Augen.
12. Sonohr Radio & Podcast Festival
Fr, 25.2.–So, 27.2. Kino Rex & div. Lokalitäten Bern
Ausstrahlung auf sieben Radiosendern
www.sonohr.ch
Audiowalk «Beyond Vision»
Sa/So, 26.2./27.2., jew. 13.00–17.00 Gaskessel Bern