Und plötzlich ist es da, und nichts ist mehr wie vorher. Ein Loch klafft auf dem Land von Bauer Tanner. Ein Loch so breit, dass es den Kirschbaum in Schräglage bringt. Und so tief, dass ein Boden oder Grund nicht auszumachen ist. Bauer Tanner stutzt, staunt und weiss: «In einer solchen Lage war er noch nie.» Darüber reden mag er nicht.
Nicht mit den anderen am Stammtisch, nicht mit seiner Frau Marie. Denn: «Darüber braucht man nicht zu sprechen, das macht es nicht besser.» Lukas Maisel lädt nach seinem fulminanten «Buch der geträumten Inseln», das 2020 auf eine Expedition nach Papua- Neuguinea führte, auf eine Reise gänzlich anderer, aber nicht minder gefährlicher Art.
Nach Huswil nämlich, einen Weiler irgendwo in der Schweiz. Aufs Land, wo Boden nicht Spekulations-, sondern Ackerfläche ist, wo nicht geredet wird, sondern gehandelt.
Doch dem Tanner vergeht nicht nur das Reden, sondern auch das Handeln. Er spürt eine Ohnmacht, die ihn zweifeln lässt «am Grossen und Ganzen ». Als ihn halbherzige Hilfsangebote erreichen, lehnt er ab. Und dann kommt, was kommen muss: ein zweites Loch.
In den Tiefen des menschlichen Seins
Lukas Maisel (35) nennt seinen schmalen Band treffend Novelle. Denn ausgehend vom ungeheuerlichen Vorkommnis auf dem Land von Bauer Tanner, erkundet er die realen und möglichen Folgen eines solchen Ereignisses wie einst Gottfried Keller, Theodor Fontane oder Gerhart Hauptmann, die Meister der Novellen im 19. Jahrhundert.
Sprachlich aber orientiert sich Maisel an Kollegen wie Otto F. Walter oder Werner Schmidli, die ab den 60er- und 70er-Jahren ihre Arbeiter- und Alltagsgeschichten in simplen Sätzen, träfen Bildern und kurzen Kapiteln erzählten. Dem jungen Zürcher Autor ist ein schönes Buch gelungen, das tief in den bodenlosen Untergrund führt – nicht nur von Tanners Erde, sondern des menschlichen Seins, Denkens und Fühlens.
Lukas Maisel - Tanners Erde
121 Seiten (Rowohlt 2022)