Was geschieht, wenn in Lettland keine Kühe mehr grasen? Obwohl diese Frage jeglicher aktuellen Grundlage entbehrt, stellt sie Theatermann Alvis Hermanis ins Zentrum seines Stücks «Melnais Piens» («Schwarze Milch»). Die herauszuhörende Antwort überrascht: Ohne Kühe verliert Lettland seine Seele. Ein düsteres Szenario, das gut an ein Festival mit dem Namen «Auawirleben» passt.
Doch Halt: Der 47-jährige Regisseur und Autor aus Riga ist ein Meister des kunstvollen Verwirrspiels. Mit Klassiker-Inszenierungen und eigenen Stücken changiert er zwischen Sozialstudie und Groteske. Ein Erfolgsrezept, das ihn zum Star der internationalen Theaterszene machte. Seit gut fünf Jahren ist er dauerpräsent in München, Salzburg, Wien oder Berlin. Auch am Schauspielhaus Zürich gastierte Hermanis mehrfach, etwa mit Dostojewskis «Idiot» oder seinem eigenen Stück «Väter». Aktuell ist seine «Geschichte von Kaspar Hauser» in der Schiffbau-Box zu sehen.

Lettisches Landleben

Die lettischen Kühe brachte Hermanis schon 2010 mit seiner Stammtruppe des Jaunais Rigas Teatris, des Neuen Theaters Riga, auf die Bühne. «Schwarze Milch» ist Teil einer Trilogie über die Veränderungen des lettischen Landlebens und basiert auf ausgedehnten Recherchen, die Hermanis mit seinem Team anstellte.
Ausgangspunkt des Stücks waren die erschwerten Produktionsbedingungen, die der EU-Beitritt 2004 den lettischen Bauern ­beschert hatte. Die «schwarze Milch» steht symbolisch für Entfremdung und Verarmung des Bauernstandes im baltischen Kleinstaat. Und darin sieht Hermanis eine Bedrohung der Identität und Unabhängigkeit Lettlands. Das Landleben ist für ihn eine Art «Comfort Zone», wie sie als Motto im Zentrum des 31. Berner Theatertreffens Auawirleben steht, wo Hermanis mit seinem Stück gastiert.
Seine Liebeserklärung an Land, Leute und Kühe ist also ernst gemeint, wenngleich jenseits von Nostalgie oder gar Idyll angesiedelt. Vielmehr bringt Hermanis seinen schalkhaften Humor ins Spiel. Die Kühe treten bei ihm als mit Hörnern und Glocken bestückte Frauen in Erscheinung, die fressen, muhen, treuherzig in die Runde blicken. Als Sinnbilder des einfachen, schönen, ländlichen Lettland. Zu diesem grotesk-schrägen Symbolismus stellt Hermanis seinen deftigen Naturalismus: Bauer und Bäuerin sind schablonenhaft dargestellt, fast derb simplifiziert. Aus der Reibung dieser poetischen Ebenen und der Beimischung von Musik oder Toneffekten entstehen bildgewaltige Szenerien.

Es wird synchronisiert

Dem Publikum ausserhalb Lettlands beschert Alvis Hermanis – wenn auch ungewollt – einen weiteren Spezialeffekt. Die den meisten unverständliche lettische Sprache gibt dem Geschehen ­einen absurden Touch. In Bern wird das Stück natürlich synchronisiert. Die Sprache aber ist für Alvis Hermanis offenbar tatsächlich ein Problem. In einem NZZ-Interview sprach er kürzlich von einem zunehmenden Gefühl des Unverstandenseins und kündigte seinen Rückzug vom internationalen Sprechtheater an. Künftig wolle er vermehrt in seiner Heimat arbeiten. Oder aber Opern inszenieren.

 


Auawirleben: Berichte aus den «Comfort Zones»

Aktuelle soziale Fragestellungen in unterschiedlichen ­theatralen Darstellungsformen: Dieser Grundidee bleibt die 31. Ausgabe des Berner Theatertreffens Auawirleben verpflichtet. Die 19 aus halb Europa und den USA eingeladenen Produktionen erkunden verschiedene «Comfort Zones», so das Thema der diesjährigen Festivalausgabe. Damit soll Fragestellungen nach einer besseren Ver­teilung von Geld, Macht und Ressourcen und Möglichkeiten der Partizipation nachgegangen werden.
Doch wo liegen diese «Comfort Zones»? Dood Paard aus Amsterdam begleitet drei angejahrte Europäerinnen ins afrikanische Singleparadies «Freetown», wo nebst Liegestühlen und kalten Drinks auch einheimische Boys bereitstehen. Ant Hampton aus London und Britt Hatzius aus Brüssel instrumentalisieren ihr Publikum und schicken es als digitale Touristen in einen analogen Vergnügungspark. Das Trio Neue Dringlichkeit aus Zürich bringt den Begriff der «Brazilification» auf den Punkt. Dieser meint das scharfe Aufeinandertreffen zwischen Arm und Reich wie in Rio de Janeiro, wo ein Sheraton Hotel direkt an eine Favela grenzt.
«Comfort Zones» als trügerische Fluchträume öffnet das Berner Konzert Theater mit seiner Produktion «Das Bekenntnis eines Masochisten». Oder die erst 18-jährige Koba Ryckewaert aus dem belgischen Gent. Sie projiziert die Innenwelt eines Teenagers in Zeiten von Finanzkrise und ­Klimaerwärmung, indem sie die Bühne vollschreibt mit ihren Gedanken und Gefühlen. Auawirleben bespielt sieben verschiedene Bühnen, die mit dem AUA-Pass auch als Parcours besucht werden können. (fn)

Auawirleben
Zeitgenössisches
Theater­treffen
Mi, 24.4.–So, 5.5.
Verschiedene Spielstätten Bern
www.auawirleben.ch