Kürzlich hat mir Radio SRF 1 (!) einen völlig unerwarteten Glücksmoment beschert: «Good Vibrations» von den Beach Boys mitten im Vorabend. Was war daran so bemerkenswert?Eigentlich, sollte man meinen, gar nichts: ein klassischer «Oldie», zielgruppengerecht platziert für die mittlere und ältere Generation. Natürlich wäre derselbe Song vor 30 Jahren eher auf dem damaligen DRS 3 zu hören gewesen, und heute wäre er, im richtigen Kontext, sogar auf der «Kulturschiene» SRF 2 Kultur möglich – wenn etwa obskure Instrumente wie das Theremin (elektronisches Musikinstrument, Anm. d. Red.) Thema wären. Dass wir unterdessen am Nachmittag ab 16 Uhr bei Radio SRF faktisch die Wahl zwischen drei – meist allerdings recht verschiedenen – Popsendern haben, ist manchenorts schon kritisch vermerkt worden: Seit der «Apéro» (der alte Jazz-Vorabend) bei SRF 2 Kultur inhaltlich in Richtung Pop/Chanson/World Music geöffnet worden ist – an sich ein längst fälliger Schritt! –, ist mitunter nicht immer auf Anhieb klar, welche Frequenz gerade eingeschaltet ist. Aber hier liegt gar nicht das Problem: Der eigentliche Skandal ist nicht das erweiterte Kulturverständnis des so vielsagend umbenannten SRF 2 Kultur, sondern umgekehrt – der schleichende Verzicht auf musikalisches Niveau und qualitative Ansprüche bei SRF 1 und SRF 3. Kurz: die fehlende Wahrnehmung von Pop als Kultur. Sodass eben ein erstklassiger und historisch wichtiger Song wie «Good Vibrations» unter zu viel austauschbarem Schrott schon fast als positiver Ausrutscher auffällt! 

Vor ein paar Jahren noch war das «Erste» musikalisch so vielseitig und anregend, dass sogar im Tagesprogramm kleine Entdeckungen möglich waren. So habe ich mal beim Kochen Francis Cabrel mit «L’Encre de tes yeux» kennengelernt, ein wunderbares Chanson, das mir drei Jahrzehnte lang entgangen war. Oder man konnte sich amüsieren, weil Lou Reeds «Walk On The Wild Side» trotz anstössigen Textes unterdessen offenbar mainstreamtauglich geworden war! Tempi passati: Seit der letzten «Überholung» (= Einschränkung) des SRF-1-Musikprofils erlebe ich kaum mehr so positive Überraschungen. Dafür riskiere ich gar Begegnungen mit Schlagern aus der untersten Schublade (à la Costa Cordalis) – und allzu häufig mit exakt den falschen, weil von jeher nervig-belanglosen alten Hits: «Yellow River» statt «Proud Mary». Was mich dann halt jeweils zwingt, auf meinen iPod zu wechseln! 

Und hier, glaube ich, macht Radio SRF einen grossen Fehler: Vor lauter Angst, minimale Geschmacksgrenzen zu ziehen, schreckt man jene ab, die nicht nur in Sachen Information, sondern auch in Sachen Musik noch gewisse Ansprüche haben. Es stimmt, «allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann». Aber Service public darf doch nicht heissen, dass man – egal, in welchem Bereich – sämtliche Kriterien über Bord wirft! Die Diskussion ist natürlich heikel, wer will schon als elitär gelten, und die Forderung, dass SRG-Programme generell einen Kulturauftrag erfüllen sollen, riskiert Beifall von der falschen Seite, von jenen nämlich, die gern polemisch (aber zu Unrecht) von «Staatsradio» reden und ihm gleichzeitig das Wasser abgraben möchten. 

Aber jetzt, wo die Abstimmung über die Gebührenordnung überstanden ist, muss es wieder möglich sein, die SRG vor billigem Populismus zu warnen, ohne gleich missverstanden zu werden. Gewiss sollen auch SRF 1 und SRF 3 mehrheitsfähig bleiben dürfen – aber: Wem es ein echtes Anliegen ist, öffentlich-rechtliche Medien zu legitimieren, darf von ihnen erst recht jenen kulturellen Mehrwert verlangen, den zurzeit (jedenfalls zwischen 16 und 18 Uhr) allenfalls SRF 2 Kultur liefert. Nur da gibt es regelmässig spannende Neuerscheinungen, nur da ist Musik mehr als beiläufiges Thema, nur da herrscht wirkliche Vielfalt – und qualitativ droht vielleicht ab und zu ein Absturz in gepflegte Langeweile (wie einst), aber wenigstens nicht in Peinlichkeit. Und wer nun argumentiert, dass die SRG ihren Kulturauftrag ausschliesslich auf SRF 2 Kultur erledigen (will sagen abhaken) kann – fällt der nicht zurück in jene alte, tatsächlich elitäre Denkweise, nach der populäre Kultur eh nicht ernst zu nehmen sei …, und hilft so mit, dass auch ein Stiller Has oder eine Sophie Hunger zunehmend unter Ausschluss eines breiteren Publikums stattfinden? 

Nochmals: Das heisst keineswegs, dass SRF 1 und SRF 3 jetzt unnötig wären. Sie haben nur ein je anderes Zielpublikum – und auch diese Segmente verdienen es, ernst genommen zu werden. Musik mag nicht für alle Leute gleich wichtig sein, und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aber ein angenehmes Begleitprogramm muss doch, für jüngere wie für ältere Semester, machbar sein, ohne damit verwöhntere Ohren zu beleidigen. Es ist ja zum Beispiel schön und lobenswert, dass auch auf SRF 1 unterdessen «Swissness» grossgeschrieben wird, aber warum so viel Gölä oder DJ Bobo, warum kaum Tinu Heiniger oder Hank Shizzoe? Die einheimische Musikproduktion (von Mundartpop bis Reggae und HipHop) hat in den letzten 20 Jahren einen beachtlichen Reichtum entwickelt, aber wie viel von dieser Palette kommt auf SRF 1 und SRF 3 (ausserhalb von Spezialsendungen) überhaupt noch zum Zug? Statt aus «1» und «3» zunehmend zwei (nur leicht differenzierte) anglophone Pop-Programme zu machen, wäre es nicht umso wichtiger, auch hier den ganzen sprachlichen und musikalischen Reichtum Europas und der ganzen Welt wenigstens ein Stück weit hörbar zu machen? Viel zu rasch befürchtet man, das Publikum zu überfordern – und verfällt so ins Gegenteil: nämlich die Hörer und Hörerinnen permanent zu unterschätzen, ihnen Neugier und Toleranz gar nicht mehr zuzutrauen. 

In den 70er-Jahren gab es auf DRS 1 am Samstagnachmittag eine Sendung, die Pop auf der Höhe der Zeit und mit dem verdienten Respekt präsentierte; sie hiess «5 nach 4». Momentan bietet Radio SRF nur ein vergleichbares Gefäss, sozusagen ein neues «5 nach 4», jeden Wochentag auf SRF 2 Kultur. Ist es zu viel verlangt, dass sich auch SRF 1 und SRF 3 im Tagesprogramm (wieder) ähnlichen Ansprüchen stellen? 

Martin Schäfer
Martin Schäfer, geboren 1948 im aargauischen Mellingen, war von 1976 bis 2013 Musikredaktor bei Radio DRS/SRF und gehörte zu den Mitbegründern des zeitgemässen Popradios in der Schweiz. Er schreibt für die NZZ und lehrt Popgeschichte in Basel und St. Gallen. Seine Biografie über Johnny Cash ist bei Suhrkamp erschienen.