Seit fast 60 Jahren ist Sylvia Plath tot, und erst heute ist ihr lyrisches Werk komplett in deutscher Übertragung verfügbar. Als «Späte Gedichte» erscheinen bei Suhrkamp jene Stücke, welche die US-Autorin nicht in ihren Band «Ariel» aufgenommen hatte. Morbid, düster und todessehnsüchtig waren diese kühnen Texte, in denen sich Plath (1932–1963) unter dem Eindruck von Weltkrieg und Holocaust mit ihrer deutschen Familiengeschichte auseinandergesetzt hatte. Daneben entstanden Gedichte, die gleichermassen kunstvoll und formvollendet, aber weniger von Trotz und Provokationswillen geprägt sind. Auch hier steht das leidende, verzweifelte Ich im Zentrum, das sich seinen Tod herbeisehnt. «Ich bin senkrecht. / Aber ich wäre lieber waagrecht», heisst es lakonisch. Sie sei weder Baum noch Blume, und so sei es doch «natürlicher, mich hinzulegen ». Es ist eine fast idyllische Vorwegnahme ihres Suizids im Alter von 30 Jahren. Doch Plath zeigt sich in diesen verstreuten Gedichten auch im Vollbesitz ihrer gesellschaftskritischen Beobachtungsgabe. Ironisch spiesst sie etwa das Verhalten von schwangeren Frauen auf, die im Begriff sind, «unter die Archetypen » zu treten. «In sich hineinlächelnd, sinnen sie / Andächtig wie die Tulpenzwiebel, / Die ihre zwan- zig Kronblätter bildet.» Die begabte, sensible und eigenwillige Dichterin litt selbst unter dem Platz, den ihr die bürgerliche Gesellschaft als Frau, Gattin und Mutter zuweisen wollte. Dennoch übergiesst Plath nicht alles nur mit dem grellen Tageslicht der feministischen Vernunft, sondern zeigt etwa auch einen Sinn für «die letzten Romantiker, diese Kerzen». Zwar schmeichle das warme Kerzenlicht und hole falsche Empfindungen hervor. Jedoch, «diese kleinen Globen aus Licht sind süss wie Birnen. / Gütig zu den Gebrechlichen, den rührseligen Frauen, / Mildern sie den kahlen Mond».

Sylvia Plath
Das Herz steht nicht still
Aus dem Englischen von Judith Zander
224 Seiten (Suhrkamp 2022)