Ist Lionel Bringuier ein guter Dirigent? Wer diese Frage bejaht, ist für eine Verlängerung seines Zürcher Chefdirigenten-Vertrages. Doch die richtige Frage muss lauten: «Ist Bringuier der richtige Kopf für Zürich?»
Der «Tages-Anzeiger» irrte sich im März, als er schrieb, dass nur das Kerngeschäft zähle, die Musik. Der Chefposten des mit 17 Millionen Franken subventionierten Tonhalle-Orchesters umfasst mehr als Konzerte für Liebhaber. Wichtiger als gute Kritiken ist, dass der Chefdirigent über den inneren Klassikkreis hinaus etwas bewegt.
Goodwill schaffen
Auch der Venezolaner Gustavo Dudamel erhält immer seltener gute Kritiken. Das Klassikpublikum liegt dem 35-Jährigen dennoch zu Füssen. Am 1. Januar 2017 dirigiert er gar das Wiener Neujahrskonzert. Denn er ist ein Weltumarmer. Als er 2009 in Los Angeles das schwere Chefdirigenten-Erbe von Esa-Pekka Salonen annahm, leitete er erstmals ein Begrüssungskonzert in der Hollywood Bowl vor 18 000 Menschen – gratis notabene. Los Angeles liebt ihn.
Dudamel zeigte exemplarisch, was ein Orchesterchef für eine grosse Stadt sein kann. Etwas bescheidener erfüllen diese Aufgabe auch James Gaffigan in Luzern, Mario Venzago in Bern – und Daniel Hope bald als künstlerischer Leiter des Zürcher Kammerorchesters. Alle drei verstehen es, zu kommunizieren. Das bringt neues Publikum, den Goodwill der Subventionsgeber – und Sponsoren. Lionel Bringuier hat das nicht begriffen.
Entlarvend war der Beginn der Tonhalle-Reihe «TOZintermezzo». Dazu wurde auf Inseraten wunderbar blöd gefragt: «Kennen Sie die Dingsbums-Variationen?» Ab 18 Uhr 30 wurden jeweils Musik, ein Drink – und eine Rede von Slam Poetin Hazel Brugger präsentiert. Doch der Versuch, Zugang für ein neues Publikum zu schaffen, war schon beim ersten Mal verspielt. Schuld war nicht die lustlos gespielte Dingsbums-Sinfonie, sondern der Zürcher Dingsbums-Dirigent – Lionel Bringuier. Da hatte der 29-Jährige den Saal endlich voll mit Gleichaltrigen, und Monsieur trat routiniert vors Orchester, als sässen da die treusten Abonnenten: Er verbeugte sich artig, arbeitete und zog schnurstracks ab. Ein Wort zum Publikum? Warum auch, ich bin doch hier der Maestro! Ach, alte Klassikwelt, dachten wird damals, wann merkst du endlich, dass du im Sterben liegst?
Freudiges Spiel
Wir hörten in den letzten eineinhalb Jahren gute Bringuier-Konzerte. Aber dann kam der Februar 2016: Das Tonhalle-Orchester spielte mit dem Chef wacker eine Sinfonie Schostakowitschs. Eine Woche später spielte man unter der Leitung des 34-jährigen Krzysztof Urbanski ebenfalls Schostakowitsch und erlebte einen unvergesslichen Abend. Alle Musiker wollten mehr als bloss arbeiten. Früher schon stand Esa-Pekka Salonen triumphal vor dem Orchester. Man hatte den Eindruck, dass das Orchester ausserordentlich freudig für Salonen oder Urbanski spielte und somit gegen Bringuier.
Stellung beziehen
Aus dem Orchester drangen, nach anfänglichem Jubel über die Anstellung, bald kritische Stimmen. Lionel Bringuier pflege nicht ihr Kernrepertoire, spreche immer noch schlecht Deutsch und agiere wie ein Gastdirigent. Das ist zu wenig für das hungrige TonhalleOrchester, es will zeigen: Wir gehören in die Top Ten. Ein Ziel, das mit Bringuier nicht erreicht wird. Wer ihn mit Kritik konfrontiert, hört sinngemäss: «Ich lese keine Kritiken. Ich komme am Montag, arbeite, leite das Konzert – und danach dirigiere ich wieder in Los Angeles, Paris oder London.»
Für Tonhalle-Intendantin Ilona Schmiel ist eine Bringuier-Diskussion kein Thema. Die Debatte über die Vertragsverlängerung hält sie für einen normalen Vorgang in der Mitte von Bringuiers erster vierjährigen Amtszeit. Die Frage, ob sie denn für eine Vertragsverlängerung sei, will sie nicht beantworten: «Im Sommer werden wir darüber sprechen, wo wir stehen.» Steht das Orchester immer noch geschlossen hinter seinem Dirigenten? «Das Orchester hatte Bringuier klar gewählt und so seine Anstellung ermöglicht. Im Sommer muss es zu seinem damaligen Entscheid Stellung beziehen», sagte Schmiel trocken.
Der Chef zählt
Am 5. Juni stimmten die Zürcherinnen und Zürcher der 165 Millionen teuren Renovation der Tonhalle und des Kongresshauses zu. Ab 2017 wird das Orchester drei Jahre lang in der Maag Halle spielen. Es wäre heikel, mitten in dieser Zeit einen neuen Dirigenten zu wählen. Doch ein Orchester verkauft sich durch seinen Heimatsaal – und seinen Chefdirigenten. Wenn diese Figur die Stadt nicht über den inneren Klassikkreis hinaus bewegen kann, macht sie zu viel falsch.
Konzerte in der Tonhalle Zürich
Do/Fr, 16.6,/17.6., jew. 19.30
Werke von Dvorák und Mahler
Tonhalle-Orchester Zürich
Leitung: Lionel Bringuier
Mit Lisa Batiashvili (Violine)
Mi/Do, 22.6./23.6., 19.30
Werke Satie, Mozart und Brahms
Tonhalle-Orchester Zürich
Leitung: Lionel Bringuier
Mit Hélène Grimaud (Piano) u.a.
Fr, 24.6., 22.00
TonhalleLate
Tonhalle-Orchester Zürich
Leitung: Lionel Bringuier
Mit Hélène Grimaud (Piano)