Wer Legenden der goldenen Opernjahre treffen will, wird Enttäuschungen erleben. Oft ist von den ehemaligen Diven kaum mehr zu hören als die Worte: «Früher war alles besser.» Und wehe, man bewundert nicht jeden ihrer Töne mit tiefer Verbeugung. Wer die 90-jährige deutsche Mezzosopranistin Christa Ludwig trifft, wird verblüfft sein, wie kritisch sie ihren Beruf heute beurteilt.
Ein Rädchen muss ins andere greifen
Auf die Frage, wie sie die aktuelle Sängergeneration erlebe, sagt sie trocken: «Ich gehe selten in die Oper, sie hat mich im Grunde genommen nie allzu sehr interessiert. Ich finde Oper nicht wirklich ein Kunstwerk – höchstens bei Richard Wagner und vielleicht bei Richard Strauss. Aber all die italienischen Werke von Gioachino Rossini, Gaetano Donizetti und Giuseppe Verdi – ist das tatsächlich Kunst?» Kaum gesagt, zitiert sie den Grafen aus Richard Strauss’ «Capriccio»: «Eine Oper ist ein absurdes Ding. Befehle werden singend erteilt, über Politik im Duett verhandelt. Man tanzt um ein Grab, und Dolchstiche werden melodisch verabreicht.» Den Einwand, mit Vincenzo Bellinis «Norma» habe sie doch selbst eine italienische Jahrhundertaufnahme eingespielt, lässt sie nur bedingt gelten: «Nun gut, Bellini hat schöne Musik komponiert, aber Donizetti sagt mir nichts.» Musik müsse einem in die Seele gehen. Die Rolle der Adalgisa in «Norma» habe sie damals in drei Tagen gelernt. «Das ist wie im Sport: Schaffe ich es oder nicht?» Die Callas zeigte ihr, wie sie phrasieren sollte. Wer heute die Platte auflegt, denkt an Christa Ludwigs Worte, dass auf der Bühne ein Rädchen ins andere greifen müsse, genauso wie im richtigen Leben: «Man kann das durch die Musik lernen – und erfährt dabei, was Musik ausdrückt. Sie ist fern der Noten eine geistige Angelegenheit. Wer dabei etwas empfindet, kann es ins reale Leben mitnehmen.»
Ludwig wurde am 16. März 1928 in Berlin geboren. Ihr Vater war Tenor und Opernintendant, ihre Mutter Altistin. Mit 17 debütierte sie in Giessen, 1955 kam sie nach Wien. An der Staatsoper sollte sie insgesamt 769 Aufführungen und 42 Partien singen. Ludwig war auch eine hervorragende Liedinterpretin. Mit der «Winterreise» verabschiedete sie sich 1993/1994 von der Bühne. Erstaunlich, in wie vielen sogenannt «besten Opern-Aufnahmen aller Zeiten» sie zu hören ist: im «Fidelio» mit Dirigent Otto Klemperer, in der erwähnten «Norma» mit Maria Callas, im «Rosenkavalier» mit Elisabeth Schwarzkopf oder in Bartóks «Blaubarts Burg» mit ihrem damaligen Ehemann Walter Berry.
Bewunderung für Maria Callas
Ludwig glaubt, dass die heutigen Sänger technisch besser seien. Aber dann wirft sie ein, dass man damals mehr aus dem Bauch heraus interpretiert habe. «Heute wird so schulmeisterlich gesungen. Aber Singen ist Liebe, ist Enthusiasmus.» Man müsse Liebe geben. Und: «Die anderen Musiker haben ein Instrument, wir Sänger nur uns selbst, und wir müssen uns selber gernhaben, sonst können wir nicht singen.» Wahrscheinlich muss man überzeugt sein von dem, was man kann – an dieser Überzeugung mangelt es Ludwig nicht. Warum auch, wer war denn besser als sie? Und doch freut sie sich nach wie vor über jeden Bewunderer, wie jene, die im Supermarkt bisweilen auf sie zukommen und sagen: «Sie haben mir so viele schöne Stunden beschert.» Kaum gesagt, kommen ihr die Tränen. Ihre Mutter habe sie früh ermahnt: «Es ist nur Theater.» Das habe sie sich zu Herzen genommen: «Ich hatte einen Chauffeur, der wartete jeweils hinter der Bühne auf mich und sagte dann: ‹Gut ist es gegangen, nix ist geschehen›.»
Wer verklärte Geschichten über die anderen Legenden neben ihr hören will, ist an der falschen Adresse: Sie bewunderte keinen. Doch dann sagt sie: «Wenn ein Jon Vickers ‹Gott, welch Dunkel hier› sang, weinte ich auf der Bühne. Das hatte mit schönem Singen nichts zu tun, das war Ausdruck.» Die Musik sei nur der Mittler: «Wenn ich hingegen von Franco Corelli die Stretta aus dem ‹Trovatore› mit dem hohen ‹C› höre – stundenlang –, dann freue ich mich, aber bewundere ihn dafür nicht. Die Callas ist wohl die Einzige, die ich bewunderte.» In ihrer Stimme sei die Tragödie ihres Lebens gelegen.
Gesang als Beruf – weniger aus Berufung
Ludwig ging zeitlebens auf die Bühne, um ihren Beruf auszuüben. «Ich habe gelernt zu singen, Sie, Journalist zu sein – fertig.» Was dazu komme, seien die Sternstunden: «Wenn ich die 2. Sinfonie von Mahler sang und mitten im Orchester sass, kam dieser Schwall der Musik wie ein warmer Regen über mich. Das kann niemand je vergessen.» Gebe man seine Stimme dazu, diesen Klang, der aus einem selbst komme, sei das unvergleichlich: Da kann man dann manchmal, selten, tatsächlich zum Augenblick sagen: «Verweile doch, du bist so schön.» Dafür lebe man: «Das ist eine Art Egoismus.»
CD-Box
The Complete
Recitals on
Warner Classics
(mit CD-Premieren),
11 CDs (Warner 2018)
Opern
Ludwig van Beethoven
Fidelio
2 CDs
(Warner 2016)
Vincenzo Bellini
Norma
Maria Callas, Christa Ludwig
(Warner 2012)