Ich schätzte den Angestellten des Tourismusbüros in Iquique auf Anfang sechzig. Er trug eine randlose Brille und einen grauen Stoppelbart. Als ich eintrat, beugte er sich über ein Modell der renovierten Fussgängerzone Iquiques, um die mehrstöckigen Holzvillen aus der Zeit der wirtschaftlichen Blüte im Massstab 1 : 1000 besser betrachten zu können. Sein massiger Körper warf einen Schatten auf die Miniaturstadt. Es war neun Uhr morgens.
Ich hatte am Tag zuvor über den Riesen von Atacama gelesen. Die Aymara-Indianer hatten das 86 Meter grosse Abbild ihres Herrschers – Gott oder Stammesführer – vor Hunderten von Jahren in den Fels gegraben. Auf meiner Reise hatte ich Touren in die Dörfer der heutigen indigenen Bevölkerung gemieden, die damit warben, einen Einblick in die ursprüngliche Kultur Chiles zu bieten. Indes verspürte ich das unbedingte Bedürfnis, die Zeichnung zu sehen.
«Wie komme ich zum Gigante de Atacama?» Der Mann blickte vom Modell auf. Er war mindestens zwei Köpfe grösser als ich. Sein Scheitel berührte beinahe die Zimmerdecke. Ob ich ein Auto habe. Ich verneinte. Ob ich mich einer geführten Tour anschliessen wolle. Ich hatte mich erkundigt: Heute fuhr keine einzige Reiseagentur zum Gigante de Atacama, und morgen würde ich in Vallenar, 900 Kilometer weiter südlich sein. «Ich muss ihn sehen.» Der Mann sah mich lange ­an. Dann holte er eine Karte der Tarapacá- Region hervor. «Nehmen Sie einen der Busse, die nach Arica fahren. An dieser Kreuzung», er legte seinen weisshaarigen Zeigefinger auf die Stelle der Karte, wo die Ruta Nacional 15 von der Ruta Nacional 5 abbog, «bitten Sie den Busfahrer, Sie aussteigen zu lassen. Dann stellen Sie sich links an den Strassenrand und machen so.» Er hielt den Arm ausgestreckt, die Finger zu einer Faust geballt, den Daumen nach oben. «Sie lassen sich mitnehmen. Hier», er machte ein Kreuz auf die Karte, zehn Zentimeter von der Kreuzung entfernt, «ist der Gigante de Atacama.» Wieder sah er mich an. «Gute Reise.»
Ich kaufte ein Busticket der Linie Cruz del Norte, die über Arica nach Bolivien fuhr. Ich verlangte einen Fensterplatz, bezahlte die ganze Strecke bis Arica und bat den Busfahrer, mich an besagter Kreuzung abzusetzen. Wir verliessen die Innenstadt von Iquique. Die Strasse wand sich den Hügel hoch. Mein Reiseführer warnte vor dieser Gegend. Mit jeder Kurve wurden die Häuser schäbiger, bis keine mehr da waren. Wir fuhren durch die Atacama-Wüste, ein Nichts aus ockerfarbenem Sand. Der Bus hielt bei den Humberstone-Salpeterwerken, damit die Fahrgäste die Besuchertoilette benutzen konnten. Ich schlug in meinem Führer nach. James Thomas Humberstone hatte 1872 hier seine Fabriken zur Nitratgewinnung errichten lassen. Für die Tausenden von Arbeitern war um die Werkstätten herum ein Dorf angelegt worden, in einer Gegend, die für Insekten zu trocken ist, um zu überleben. Nach der Erfindung des Amoniak war es bergab gegangen mit den Salpeterwerken. Als sie 1961 schliessen mussten, gab es für niemanden ­einen Grund zu bleiben. Die Wegzüger hinterliessen eine Geisterstadt, die bald zum Museum erklärt wurde. Bei meinem Spaziergang durch die leer stehenden Häuser fiel mir einige hundert Meter vom Besuchergelände entfernt eine Anhäufung von Gegenständen auf. Neben der Sammlung nutzloser Gebäude hatten Vorbeifahrende Badewannen, ­Autos und Kühlschränke entsorgt.
Wir setzten die Fahrt fort. Der nächste Halt war meine Kreuzung. Ich stieg aus, der Bus fuhr ab. Ich sah mich um. Rund um die Kreuzung standen ein Polizeiposten, ein Restaurant und ein Kiosk. Bis auf einen Asiaten, der mehrere Kanister Wasser auf die Ladefläche seines Pickups packte, war niemand zu sehen. Aus dem Inneren des Wagens drang laute Musik. Auf dem Vordersitz sass eine Frau mit Sonnenbrille. Auf dem Rücksitz lag eine Gasflasche. Ich bat den Mann, mich mitzunehmen. Er liess mich hinten einsteigen. Nach zehn Kilometern zeigte ein Schild mit der Aufschrift «Gigante de Atacama» auf einen gepfadeten Weg, der zwischen Sandhügeln durchführte. Sie brausten davon. Die Musik wurde immer leiser. Ich marschierte los. Die Luft war staubig und trocken. Ich dachte an mein Dachzimmer in der Schweiz, in dem sich im Hochsommer alle Hitze staute. Ich wünschte, ein Fenster öffnen zu können. Mir fiel ein, dass ich kaum Wasser dabei hatte. Ungefähr fünf Kilometer entfernt sah ich einen Hügel, in den sich tiefe schwarze Streifen eingegraben hatten. Beim Näherkommen erkannte ich eine Frau. Ein schwarzes Dreieck kennzeichnete ihren Schoss. Sie war in modernem Stil gezeichnet, den «Demoiselles d’Avignon» ähnlich. Ich versuchte, mich an die Abbildungen zu erinnern, die ich vom Gigante de Atacama gesehen hatte. Die groben Striche schienen mir stimmig. Am Fuss des Hügels angekommen, entpuppten sie sich als Spuren von Sandboardern, die mit ihren Brettern die Kurven dieser Venus gezeichnet hatten.
Ich war müde. Meine Wasserflasche war leer. Auf dem ganzen Weg war mir kein anderer Mensch begegnet. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Rückweg schaffen würde, wenn ich noch weiter vorwärts gehen würde. Ich hatte einen Riesen sehen wollen, stattdessen reiste ich seit Stunden durch eine Ödnis. Ich versuchte, auf den umliegenden Hügeln dunkle Stellen, Spuren einer Zeichnung zu sichten, entdeckte aber nur Schatten und Erosionen.
Der Weg machte eine Kurve. Da stand er. Er war für jeden erkennbar ein König. Riesig, nicht um gesehen zu werden, sondern um zu sehen. Nachdem sein Volk von Eroberern verfolgt und vertrieben worden war, war er vom Bildnis zum Gott erwacht. Seither hatte keine Menschenseele in dieser Gegend mehr Ruhe gefunden. Früher oder später waren alle geflohen. Ruinen und Trümmer markierten ein Hoheitsgebiet. Nur er war noch da, Herrscher über sein Totenreich. Ohne mich noch einmal umzusehen, rannte ich zur Strasse zurück und stieg in ein Auto ein, ohne zu fragen, wohin es fuhr.

Anna Papst
Anna Papst, geboren 1984, wuchs in Nänikon ZH auf. Sie schloss 2011 ihr Regiestudium an der Zürcher Hochschule der Künste ab. 2010 inszenierte sie ihr eigenes Stück «Die Schläferinnen» im Theater am Neumarkt in Zürich. «Der Teich oder Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen» nach Robert Walser wurde u.a. in Zürich und Aarau gespielt. Im März kam «Die Gottesanbeterin» am Schauspielhaus Zürich zur Uraufführung. Anna Papst ist an Theatern in ­Zürich und Aarau als ­Autorin und Regisseurin tätig.