kulturtipp: Heutzutage ist oft von einem Sprachzerfall die Rede. Sehen Sie diesen auch in der zeitgenössischen Literatur?
Mario Andreotti: Die Sprache wandelt sich. Aber das bedeutet nicht unbedingt einen Sprachzerfall. In der zeitgenössischen Literatur ist eine Angleichung an die Umgangssprache zu beobachten – ein Beispiel ist Christian Kracht im Roman «Faserland». Dazu kommt die zunehmende Verwendung von Jugendsprache, Anglizismen und einer Mischsprache zwischen Hochsprache und Dialekt. Auffällig ist auch der Bruch mit sprachlichen Tabus im Sexual- oder Fäkalbereich, wie es etwa Charlotte Roche oder Helene Hegemann zelebrieren. Es hat eine Entpoetisierung und eine Ökonomisierung, also eine Verknappung der Sprache, stattgefunden.

Hängt diese Verknappung mit dem Einfluss der neuen Medien – der «Kurz-Sprache» auf Facebook, per SMS, Twitter und Ähnlichem – zusammen? 
Leider fehlen dazu bisher genaue Untersuchungen. Deutlich ist aber die Neigung zum Lakonischen, zu syntaktisch verkürzten Sätzen. Das schönste Beispiel dafür ist der Handy-Roman. Zudem erleben die Kurzgeschichten, die in ihrem knappen, unpathetischen Stil an amerikanische Vorbilder anknüpfen, eine Renaissance. Das Internet-Vokabular hat auch einen Einfluss auf die Literatur: In Daniel Glattauers E-Mail-Roman ist etwa die Rede von «abspeichern», wenn man sich etwas merkt. Oder von «umprogrammieren», wenn man jemanden zu etwas überreden will. Die Sprache, die wir auf Facebook oder Twitter sehen, spiegelt sich also in der deutschen Literatur. Sie entwickelt sich von einer poetischen zu einer pragmatischen Sprache – alles, was nicht zum Plot gehört, muss weg. 

In Ihrem Buch «Die Struktur der modernen Literatur» führen Sie zehn Kriterien auf, was gute Literatur ausmacht. Was zählen Sie zu den schlimmsten «Sünden»?
Die Fixierung auf «seine Majestät, das grosse Leserpublikum». Viele Autoren wagen es fast nicht mehr, moderne Stilmittel wie Montage, Auflösung einer festen Erzählposition etc. einzusetzen. In der Literaturkritik geraten Urteile über die poetische Qualität literarischer Texte immer mehr unter Konformitätsdruck – es gelten nur noch die blanken Verkaufszahlen. Gefragt sind nicht mehr Autoren, die ihre Literatur als moralische Gegenmacht zur herrschenden Gesellschaft verstehen. Die Verleger sind auf der Jagd nach dem Bestseller, nach dem, was unterhaltsam und möglichst unpolitisch ist – Martin Suter, Rolf Dobelli, Charlotte Link sind nur einige Beispiele. 

Die Trivial- und Unterhaltungsliteratur gibt es allerdings schon lange. Ist sie per se «schlechte» Literatur?
Nein, so würde ich das nicht sagen. Sie ist süffig. «Gut» und «schlecht» haben eine moralische Wertung. Ich spreche lieber von fruchtbar und weniger fruchtbar. «Gute» Literatur muss sich dem schnellen Zugriff des Lesers verweigern, muss ein Mysterium behalten. Franz Kafka gibt uns heute noch neue Facetten der Interpretation; diese Dimension fehlt einem Martin Suter. Nur Werke, welche die Errungenschaften der literarischen Moderne miteinbeziehen, bleiben nicht kurzzeitige Saisonerfolge, sondern entfalten eine dauerhafte Wirkung. Literatur sollte Bestehendes hinterfragen, festgefahrene Ideologien mit all ihren Mitteln – besonders mit Fantasie und Sprachwitz – unterwandern. Urs Widmer mit seinem Stück «Top Dogs» ist dafür ein hervorragendes Beispiel.

Was halten Sie von der saloppen Sprache in Poetry Slams?
In einem Poetry Slam kommen lyrische Texte zum Zug, die gar nicht salopp sind. Nicht umsonst nennen sich die Performer auch wieder Poeten und Dichter. Poetry Slams sind keinem elitären Kreis vorbehalten, wie früher die Literaturlesungen. Vielmehr sind sie eine Show: Man steht, trinkt, raucht und klatscht. Dies bedingt einen Sprachwandel – hin zu einer Sprache, mit der sich das jugendliche Publikum identifizieren kann. Die Gefahren der Slams sehe ich eher in der Tendenz zur Oberflächlichkeit, zur Anpassung an die Konsumgewohnheiten des Publikums.

Ein Blick in die Zukunft: Welche Tendenzen sind in der Literaturlandschaft auszumachen?
Das ist nicht leicht abzuschätzen, da die Stilrichtungen heute schnell wechseln und häufig parallel nebeneinander verlaufen. Die Postmoderne, die etwa zur Wiederentdeckung der klassischen Novelle geführt hat, wird sich noch eine Zeit lang halten können. Seit Mitte der 90er kündigt sich daneben eine «Zweite Moderne», zum Teil sogar in radikalisierter Form, an. Was hingegen den zeit­genössischen Roman betrifft, haben wir es mit einer neu ­gewonnenen Unbefangenheit des Erzählens und mit einer Abkehr von der klassischen Moderne zu tun. Das führt zu den erwähnten kurzzeitigen Saisonerfolgen. Der Roman wird in den kommenden Jahrzehnten mit grosser Wahrscheinlichkeit die dominierende Gattung bleiben. Ob es der digitalen Literatur gelingt, ihr Nischendasein zu überwinden, muss offenbleiben. Ich denke aber, wenig von dem, was heute produziert wird, hat in 50 Jahren noch Bestand.

Experte für die literarische Moderne
Mario Andreotti ist 1947 in Glarus geboren. Nach dem Studium und der Promotion in Germanistik an der Universität Zürich war er bis 2012 als Lehrer an der Kantonsschule St. Gallen tätig. Heute lehrt er an der Universität St. Gallen und an der Höheren Fachschule für Sprachberufe in Zürich sowie an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. Zudem ist er als Referent und als Mitglied verschiedener Literaturkommissionen, etwa des Bodensee-Literaturpreises, tätig. Die literarische Moderne ist sein Fachgebiet. Sein Band «Die Struktur der modernen Literatur» gilt als Standardwerk. Andreotti lebt in Eggersriet SG. 

Mario Andreotti
«Die Struktur der modernen Literatur» 
5. Auflage
488 Seiten
(Haupt 2014).