Sei es im Zug oder im Wartezimmer: Jede zweite Leserin hat zurzeit Elena Ferrantes Roman «Meine geniale Freundin» in der Hand, versunken in die Geschichte zweier Freundinnen im Neapel der 50er-Jahre. Dieser Hype und die Auflage in Millionenhöhe sind zuerst mal eine Folge der Geheimniskrämerei rund um die Autorschaft. Elena Ferrante ist das grosse Phantom der Gegenwartsliteratur. Wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt, gibt Anlass zu wilden Spekulationen.
Ein Buch, das süchtig macht
Im schriftlich geführten «Spiegel»-Interview hat sie zumindest so viel verraten: «Ich heisse Elena, ich bin eine Frau, und ich bin in Neapel geboren.» Ansonsten will sie ihr Werk für sich sprechen lassen, jeglicher Rummel rund um ihre Person ist ihr zuwider. Während einige dahinter eine clevere Vermarktungsstrategie vermuten, verfallen die anderen in Begeisterungsstürme. Als «epochales literaturgeschichtliches Ereignis» bezeichnet es «Die Zeit», «der erste wahre Klassiker des 21. Jahrhunderts», schreibt «The Huffington Post». «‹Meine geniale Freundin› strömt aus der Seele wie die Lava nach einem Ausbruch des Vesuvs», gibt sich «La Repubblica» blumig-enthusiastisch. Schriftsteller von Jonathan Franzen bis Zadie Smith bekennen sich süchtig, Nobelpreis-Rufe werden laut.
Blick zurück nach 60 Jahren
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei kluge Mädchen, die in den 50ern im ärmlichen Viertel Rione in Neapel aufwachsen: Die wilde Schuhmacher-Tochter Raffaella «Lila» Cerullo und die fleissige, brävere Pförtner-Tochter Elena «Lenù» Greco. Die beiden freunden sich bereits als kleine Mädchen an, Lenù immer etwas im Schatten von Lila, der unerschrockenen Freundin nacheifernd.
Die Ich-Erzählerin Lenù blickt sechs Jahrzehnte später auf die intensiven Kinder- und Jugendjahre zurück, im Rückblick kann sie die damaligen Ereignisse in grössere Zusammenhänge einordnen. Anlass ist ein Anruf von Lilas Sohn, der ihr sagt, dass seine Mutter seit zwei Wochen spurlos verschwunden ist, dass sie all ihre Spuren getilgt hat, sich selbst aus Familienfotos ausgeschnitten hat. «Lila will wie immer zu weit gehen», ist die erste Reaktion von Lenù. Mit dem Aufschreiben ihrer gemeinsamen Geschichte will sie ihre Freundin fassbar machen, ihrem geheimnisvollen Wesen auf die Spur kommen.
Ein ambivalentes Verhältnis
So werden die Leserinnen hineingezogen in das von Gewalt geprägte Neapolitaner Viertel, in dem die Camorra herrscht. Die Männer haben hier das Sagen, die Frauen müssen sich meist fügen, Bildung ist den wenigsten von ihnen vergönnt. Die hochbegabte Lila muss in der Schusterei aushelfen, während Lenù weiter zur Schule gehen darf und durch fleissiges Lernen zur besten Schülerin wird. Dennoch fühlt sich Lenù ihrer Freundin meist in Klugheit, Schönheit und Willenskraft unterlegen. Lila ist ihr Ansporn, immer noch belesener und noch mutiger zu werden.
Elena Ferrante zeichnet in ihrem Roman ein manchmal irritierendes, ambivalentes Bild einer Mädchenfreundschaft: Konkurrenz und Neid herrschen vor, und dennoch sind sich die beiden so nahe wie sonst niemandem – beflügeln einander geradezu.
Lila und Lenù werden unterschiedliche Wege einschlagen, so viel wird nach dem ersten Teil der Tetralogie klar: Ausgerechnet die unbezähmbare Lila wählt die konventionelle Variante für ihren sozialen Aufstieg, die stillere Lenù hingegen verfolgt hartnäckig den Bildungsweg. Der Roman zeigt eindrücklich das Ringen der Frauen im von Männern beherrschten Italien der 50er- und 60er-Jahre – und wie Bildung zum Ausbruch aus dem Patriarchat verhelfen kann. Klug, radikal ehrlich und mit einem Gespür für Spannungsbögen beschreibt Ferrante den Weg der jungen Frauen und lässt das Viertel Rione mit seinen Bewohnern vor dem inneren Auge entstehen. Sprachlich stellt sie der groben, lauten Welt im Arbeiterviertel, in der schon mal eines der Mädchen vom Vater aus dem Fenster geworfen wird, eine geschliffen klare Sprache gegenüber. Ob die Roman-Tetralogie tatsächlich in den literarischen Kanon eingehen wird, sei dahingestellt. Sicher ist, dass die vier Bände aus Italien auch im deutschsprachigen Raum für Furore sorgen und damit den Blick für weibliche Lebensentwürfe schärfen werden.
Buch
Elena Ferrante
«Meine geniale Freundin»
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
422 Seiten
(Suhrkamp 2016).