Banale Gedanken, die schmerzen wie Dolchstiche. Eine ­Ehefrau denkt an ihren Mann: «Er ist 45, ein Alter, in dem ­der Mann am stärksten, am schwersten ist, mit beiden Beinen auf der Erde steht und sein Blut kräftig durch die Adern fliesst.» Der Gatte heisst Guillaume und ist ein notorischer Fremdgänger. Die Hintergangene fühlt sich nicht nur um ihre Ehe betrogen, sondern um ihr ganzes Leben in ihrem wohlbetuchten Mittelstandsmilieu.

Das ist eine Szene aus der Kurzgeschichte der französischen Schriftstellerin Irène Némirovsky im Band «Meistererzählungen». Die aus einer russischen Familie stammende Autorin schrieb in der Zwischenkriegszeit zahlreiche Erzählungen und etliche Romane. Nach der deutschen Besatzung wurde Némirovsky nach Auschwitz deportiert, wo sie 1942 im Alter von 39 Jahren starb. Nach Jahren der Vergessenheit erscheint ihr Werk nun zusehends neu. Ihr aufwühlender Liebesroman «Suite française» fand in der Neuauflage vor sieben Jahren internationale Aufmerksamkeit.

Den Auftakt der neun Meistererzählungen macht die Novelle «Rausch». Némirovsky verarbeitet darin Erinnerungen an den Umbruch in St. Petersburg während der Russischen Revolution. Die meisten Erzählungen spielen jedoch in Frankreich, zum Teil unmittelbar vor oder nach Kriegsbeginn. Wunderschön ist das Porträt eines versnobten US-Amerikaners, der in Paris den Kriegsausbruch am 1. September 1939 erlebt.


[Buch]
Irène Némirovsky
Meisterer­zählungen
222 Seiten
(Knaus 2011).
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