Es ist eine eher zufällige Flucht. Der 22-jährige Kleinganove Filippo sieht im Müllraum seines Römer Gefängnisses, wie sein Zellengenosse Carlo im Müllcontainer verschwindet. Er springt ihm spontan hinterher. Ein paar Stunden später stehen sie auf einer Anhöhe. Carlo will alleine weiter. Für Filippo ist das ein Schock. Denn er schenkte Carlos flammenden Reden über Solidarität und Widerstand Glauben. Carlo speist ihn nun mit der Adresse seiner in Paris untergetauchten Genossin und Geliebten Lisa ab.
Inszenierter Mord
Diese Szene ist der Kern von Dominique Manottis neuem Roman über Liebe und Verrat in der linksradikalen Szene Italiens der 80er-Jahre. Kurz nach dieser Flucht berichten Zeitungen, dass die italienische Polizei Carlo bei einem Banküberfall erschossen hat. Carlo gehörte zur Führungsriege der italienischen Terroristengruppe Rote Brigaden. Filippo flieht nach Paris, Lisa misstraut und hilft ihm trotzdem. Beide lässt der Tod von Carlo nicht los. Filippo beginnt zu schreiben. Er malt sich aus, mit Carlo die Bank überfallen zu haben – als unzertrennliche Männerfreunde. Lisa beginnt zu recherchieren. Sie glaubt, dass der italienische Geheimdienst Carlos Flucht eingefädelt und ihn ermordet hat, um die Roten Brigaden als Verbrecherbande zu diskreditieren.
Ära der Sozialisten
«Ausbruch» ist der siebte auf Deutsch erschienene «Roman polar» (Krimi) von Marie-Noëlle Thibault alias Dominique Manotti. Die heute 71-Jährige dozierte Wirtschaftsgeschichte und führte eine Gewerkschaft, bevor sie Anfang der 80er-Jahre aus Politik und Uni ausstieg und anfing zu schreiben, inspiriert von den Hardboiled-Krimis des US-Autors James Ellroy. Sie charakterisiert sich als «verzweifelte Dissidentin» der Linken.
Ihre Romane zeugen von dieser Desillusionierung, vor allem über die aus ihrer Sicht durch Korruption, Verrat und Profitgier gekennzeichnete Ära des Sozialisten François Mitterand in den 80ern. In «Hartes Pflaster» (Original: 1995) würdigt sie den Kampf illegaler Textilarbeiter um ihre Rechte im Pariser Viertel Sentier. Der schwule Kommissar Daquin fahndet hier nach Drogenhändlern, welche die Stadt mit Heroin versorgen. «Roter Glamour» (2001) handelt von einem Sonderberater des sozialistischen Präsidenten, der einen geheimen Waffendeal mit dem Iran einfädelt, um die Parteikasse und sein Konto zu füllen. Doch das mit Raketen beladene Flugzeug stürzt ab. In «Letzte Schicht» (2006) streiken die Arbeiter einer Bildröhrenfabrik in Lothringen, die durch Brandstiftung im Feuer aufgeht. In Paris entbrennt indes der Kampf zweier Firmen um die Übernahme des Elektronik- und Rüstungsriesen Thomson. In «Einschlägig bekannt» (2010) zeigt Manotti die Strategie rechter Politiker, sich durch das Schüren von Gewalt und hartes Durchgreifen in den Banlieues zu profilieren.
Der Geheimkrieg
In «Ausbruch» spielt Mitterand nur am Rand eine Rolle, indem er Dutzenden in Italien verurteilten Ex-Terroristen Zuflucht gewährt. Manotti legt ihren Fokus auf die satirische Darstellung des Literaturbetriebs und den staatlichen Geheimkrieg gegen die italienische Linke. Sie strukturiert ihren neuen Roman chronologisch nach Daten, die bewährte Erzählstrategie der Historikerin. Ihr Plot ist ausgeklügelt, die Handlung dicht, die Sprache knapp, frei von Pathos, aber voll kalter Wut. Manotti wechselt ständig die Perspektiven und verweigert so den Lesern einen Helden als Identifikationsfigur. Sie ist jedoch parteiisch und seziert in pointierten Szenen die narzisstische Zerstrittenheit der italienischen Linken im Pariser Exil.
Zugleich beleuchtet sie den historischen Fakt, dass italienische Geheimdienste und Rechtsextremisten ab den 70er-Jahren Terroranschläge mit Hunderten von Opfern verübten, um die Schuld der Kommunistische Partei Italiens und Splittergruppen wie den Roten Brigaden in die Schuhe zu schieben.
Neue Welten
Dominique Manottis Romane enden düster: Die Herrschenden obsiegen, Mitläufer kommen davon, Zeugen sterben. Trotzdem glimmt in jedem Roman ein Funken Hoffnung. In «Ausbruch» feiert Manotti die Kraft des Schreibens: Filippo kann seine Zuneigung und Verehrung für Carlo vor dessen Verrat retten, indem er eine gemeinsame Fluchtgeschichte erdichtet. Zudem steigt Filippo zum Star-Autor auf, der das Herz einer Frau erobert, die er seit langem begehrt. Das Schreiben eröffnet neue Welten.
Dominique Manotti
«Ausbruch»
256 Seiten
(Argument Verlag 2014).