Das Stift Maria zum Schnee macht einen herrschaftlichen Eindruck. Seine Schwarze Madonna ist ein Pilgerort, den alljährlich auch die letzte Kaiserin der Habsburger mit ihrem vergreisten Hofstaat besucht. Das dazugehörige Internat geniesst einen ebenso exzellenten wie gefürchteten Ruf. Hier soll der elfjährige Arthur Goldau Mitte der 60er in Kutte und Sandalen seine Jugendjahre verbringen. Innerhalb der Klostermauern gilt eine strenge Ordnung. Ist es das stumpfe Gleichmass der ewigen Tage, das die Zöglinge auf krumme Gedanken bringt?

Mit «Der Rote Diamant», der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist (siehe Seiten 6/7), taucht Thomas Hürlimann ein in die eigene Internatszeit in Einsiedeln. Seine literarische Kunst besteht seit jeher darin, dass er seinen biografischen Hintergrund in schillernde Fiktionen übersetzt.

Der Roman folgt dieser Spur, indem er sein Alter Ego Arthur in ein Abenteuer verwickelt. Im Stift kursiert das Gerücht, dass in seinen Katakomben ein Diamant versteckt sei, ein Relikt aus dem Kronschatz des Habsburger Kaisers Karl I., der 1918 abdankte. Damit beginnt eine Schatzsuche, die tief in die Geschichte zurückführt.

In seiner so gewitzt wie turbulent geschilderten Handlung geht es Hürlimann weniger um historische Wahrheit als um erzählerische Wahrhaftigkeit. Dabei erweist er sich als eleganter Stilist, der souverän zwischen biografischer Erinnerung und aufblitzender Apokalypse hindurch navigiert.

Die Abenteuergeschichte mit philosophischem Kern erinnert unweigerlich an Umberto Ecos «Der Name der Rose». Auch Hürlimann macht das Kloster zum Ort eines Mysteriums, das sich um alte Traditionen und den Untergang einer Epoche dreht.

Thomas Hürlimann - Der Rote Diamant
320 Seiten (S. Fischer 2022)