«Scheissfrage. Kunst ist freiwillig», antwortet Miriam Cahn per Mail auf die höflich gestellte Frage, ob Kunst die Welt verändern kann. Oder war es eine andere Frage, die sie meinte? Die Künstlerin hat ihre Antworten eigenwillig durchnummeriert und als erstes gewarnt, dass sie nicht alle Fragen beantworten würde. Dass diese Frau explosives Potenzial hat, lässt das vom Kunstmuseum Bern parallel zur Ausstellung «Miriam Cahn – Ich als Mensch» herausgegebene Textbuch «Das zornige Schreiben» erahnen.
Mit der 1949 in Basel geborenen Künstlerin scheint nicht immer gut Kirschen essen zu sein. Nicht nur über Atomkraft, Krieg und Sexismus kann sie sich erzürnen, sondern auch über Kuratoren, Institutionen oder Galeristinnen. Die nun veröffentlichten Briefwechsel, sei es mit Hochschulen oder Kunstkritikern, zeugen von Cahns Radikalität, wenn es um ihre Kunst und ihren Platz in der Welt als Frau geht. Kathleen Bühler, Leiterin der Abteilung Gegenwartskunst am Kunstmuseum Bern, freut sich über die Wiederentdeckung der bald 70-jährigen Künstlerin.
Gleich mehrere Institutionen widmen Miriam Cahn in diesem Jahr eine umfangreiche Schau: Das Kunstmuseum Bern und das Kunsthaus Bregenz (siehe unten), die Reina Sofia in Madrid, das Haus der Kunst in München und das Museum für Moderne Kunst in Warschau. In Bern zeigt Cahn expressive Arbeiten auf Papier, Ölgemälde, monumentale Skulpturen, performative Videos und noch nie gezeigte Skizzenhefte. Viele Werke sind speziell für die Ausstellung konzipiert worden. Der Titel «Ich als Mensch» sei Programm, erklärt Bühler. «Miriam Cahn versucht nicht, allein die Perspektive der Frau und Künstlerin einzunehmen, sondern diejenige des Menschen, der unter allen anderen Menschen heute menschlich agieren soll.» Das Hängen der Bilder sei bei Cahn ein wichtiger schöpferischer Akt. «Ich sehe mich bei diesem Projekt in der Rolle der Assistentin», sagt die Kuratorin. Rund 200 Werke werden gezeigt. Die mehrheitlich schwarz-weissen Zeichnungen sind im Stettlerbau und die grossformatigen Ölbilder im Erdgeschoss zu entdecken.
Burka oder Chirurgenmaske?
Die suggestive Malerei, die wie radioaktiv leuchtenden Farben und die Darstellung starker Emotionen ergeben ein expressives Werk voller Ambivalenz. Der Mensch steht oft im Zentrum, manchmal als Mischwesen zwischen Mann und Frau, manchmal zwischen Mensch und Tier. Das Bild «meredith grey (gestern im TV gesehen)» wurde vom Kunstmuseum Bern zum Schlüsselbild der Ausstellung erhoben. «Pop ist Alltag. Dazu gehört auch eine Serie wie ‹Grey’s Anatomy›», begründet Cahn den Titel, der sich auf eine Figur aus der berühmten TV-Serie bezieht. Da Meredith eine Chirurgin ist, könnte der blaue Schleier eine Hygienemassnahme sein. Oder trägt die Figur vielleicht eine Burka? «Frauenspezifisch eine interessante Frage», findet Cahn. Wie man ihre Bilder wahrnimmt, hat viel mit den eigenen Vorstellungen zu tun. «Lachen» zeigt eine kahlköpfige barbusige Figur mit eingefrorenem Grinsen. Man denkt an eine Sexpuppe. Ihre Form von Feminismus will die Künstlerin nicht im Detail darlegen. Doch sie findet die #MeToo-Debatte auf «alle Fälle und mit allen Fehlern leider immer noch nötig und daher super».
Gegen den männlichen Geniekult
Von Anfang an zeichnete Cahn gegen das Patriarchat an und stellte sich gegen den von Männern propagierten Geniekult. «Künstlerinnen haben nichts zu verlieren, weil nichts da war», schrieb sie in den 80ern in einem Brief. In jungen Jahren brachte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Kreidezeichnungen an einer Basler Autobahnbrücke an. Der Titel lautete «mein frausein ist mein öffentlicher teil». Sie wurde an einem Weihnachtsabend erwischt und von zwei Polizisten abgeführt. Diese mussten angeblich ein Pornoheft von einem Stuhl entfernen, damit die Verhaftete Platz nehmen konnte. Anstatt ihre Tat zu bereuen, erklärte Cahn vor Gericht den Unterschied zwischen Acrylspray und Kreide, die durch Regen von selbst wieder verschwände.
Die Geschichte, die sich 1981 ereignete, brachte der Künstlerin eine Busse von 250 Franken und die Aufmerksamkeit von Jean-Christophe Ammann ein. Der damalige Leiter der Kunsthalle Basel zeigte ihre Werke in einer Gruppenausstellung. Für einen Eklat sorgte ihr Abgang von der documenta – einer der wichtigsten Ausstellungen der Gegenwartskunst – im Jahre 1982. Der Kurator Rudi Fuchs hatte kurzfristig bestimmt, dass sie den Raum mit einem Kollegen teilen sollte. Sie hängte ihr Werk ab und wurde von Fuchs auf der Pressekonferenz als «hysterische Neurotikerin» bezeichnet. 2017 ist sie auf Einladung von Adam Szymczyk an die documenta zurückgekehrt. Gewalt, Zorn und Verstörendes findet man in vielen ihrer Bilder. Doch es gibt auch andere Töne. In «liebenmüssen» (2017) kuschelt sich eine Figurengruppe aneinander. Mama, Papa, Kind? Auch das liegt im Auge der Betrachtenden.
Cahn in Bregenz
Auch das Kunsthaus Bregenz widmet sich ab April in der Ausstellung «Das genaue Hinschauen» dem Werk von Miriam Cahn. Gezeigt werden mitunter schemenhafte Figuren in kaum definierten Innenräumen. Gewalt und Zerstörung sind die Themen. Berglandschaften des Oberengadins, wo die Basler Künstlerin lebt und arbeitet, sind zudem Teil der Schau.
Das genaue Hinschauen
Sa, 13.4.–So, 30.6.
Kunsthaus Bregenz (A)
www.kunsthaus-bregenz.at
Ausstellung
Miriam Cahn – Ich als Mensch
Fr, 22.2.–So, 16.6.
Kunstmuseum Bern
www.kunstmuseumbern.ch
Fernsehen
Miriam Cahn: Kunst als Kommentar zur Zeit
«Sternstunde Kunst»: Filmporträt
So, 24.2., 11.55 SRF 1
Buch
Miriam Cahn
Das zornige Schreiben
Mit Texten, Gedichten Brief- und Mailwechseln
(Hatje Cantz 2019)