Eduard Spelterinis Luftbilder sind Zeiträuber. Wer die Aufnahmen studiert, die der Ballonpionier um 1900 herum schoss, kann sich nur schwer von ihnen losreissen: In seinen Fotos wirken Jungfrau- oder Mont-Blanc-Massiv in ihrer ganzen Wucht aus hellem Eis und dunklen, schroffen Felsen. Sein Blick hinunter auf Zürich oder Genf weckt ein Gefühl von ferner Vertrautheit.
Blick auf die Geschichte eines Abenteurers
Der gebürtige Toggenburger begann 1893, während seiner Ballonfahrten zu fotografieren: die sich verändernden Schweizer Städte und die Alpenzüge, später die Pyramiden von Gizeh und die Goldminen von Transvaal. Die Zeitungen berichteten voller Bewunderung über seine Flüge. Er selber präsentierte seine Fotos in Hunderten von Vorträgen einem begeisterten Publikum. Der Rummel erstaunt wenig: Für viele Menschen boten Spelterinis Luftbilder zum ersten Mal diesen gänzlich neuen Blick auf die Heimat, gar die Welt – die Vogelperspektive.
Ein Teil der originalen Glasplattennegative von Spelterini lagern heute in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. Dort hat man diesen Foto-Schatz zum Ausgangspunkt genommen, um mit der Ausstellung «Von oben – Spelterinis Ballon und die Drohne» die Geschichte des Luftbildes in der Schweiz zu erzählen.
Schon im Eingangsbereich der Bibliothek lässt eine grosse Schweizer Karte am Boden die Besucher in Spelterinis Luftbilder eintauchen; eine Smart-phone-App macht es mittels erweiterter Realität möglich. Die eigentliche Schau ist chronologisch aufgebaut. Sie erzählt von Spelterinis Abenteuern und vom Ende seines Ruhms mit der Ankunft des Flugzeuges. Sie erzählt davon, wie die Fotografien der Landestopografie immer detaillierter werden und Wettersatelliten ab den 1970ern eine neue Sicht auf die Erde ermöglichen. Und schliesslich erzählt sie von der Drohne, die es heute jedem und jeder ermöglicht, eigene Luftbilder zu schiessen.
Highlight der überschaubaren, aber spannenden Ausstellung ist zweifelsohne der Ballonkorb, in dem die Besucher den Ballonpionier Eduard Spelterini mit Hilfe von virtueller Realität auf einem Alpenflug begleiten können.
Anhaltende Faszination für Luftbilder
Skurril wiederum muten die erfolglose Taubenkamera und ihre verwackelten Fotoerzeugnisse an. Diese Tüftelei des Aargauer Uhrmachers Adrian Michel zeugt von der strategischen Wichtigkeit, die man dem Luftbild stets beimass. Und staunend lässt einen schliesslich eines der neusten Bilder des Bundesamtes für Landestopografie zurück: ein Hof in Wintersingen, Basel-Landschaft, ein Foto-Pixel entspricht in der Realität einer Fläche von 10 auf 10 Zentimetern. Fast liessen sich die einzelnen Blüten an den Obstbäumen zählen.
Aber was fasziniert an Luftbildern? Hannes Mangold, Kurator der Ausstellung in der Nationalbibliothek, versucht sich an einer Erklärung: «Durch den steilen Winkel besitzen solche Fotos eine ganz eigene, leicht irritierende Ästhetik. Hinzu kommt wohl das Versprechen von Übersicht.» In eine ähnliche Richtung geht, was der Flugpionier Walter Mittelholzer 1928 in seinem «Alpenbuch» über den fotografischen Blick von oben schrieb: «Es ist, als ob die Erde dadurch ein neues Antlitz, der Mensch ein neues, vollkommeneres Auge gewonnen hätte.» Für gewöhnlich sieht der Mensch gerade einmal so viel von der Erde, wie es die eigene Körpergrösse und der jeweilige Standort zulassen. Das Luftbild erweitert wortwörtlich den Horizont und kommt dabei dem menschlichen Wunsch sehr nahe, fliegen zu können.
Erweiterung des eigenen Horizonts
Dem Swissair-Gründer Mittelholzer ist es auch zu verdanken, dass das Luftbild in der Schweiz heute nicht nur Mittel zur Kartografie ist, sondern vor allem: Alltagskultur. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte er die Luftaufnahme zum Geschäft. Mittelholzer fotografierte zum Beispiel gezielt Fabriken, um die Fotos dann den Besitzern zu verkaufen. Postkartenverlage wie Photoglob zogen nach und lichteten die halbe Schweiz vom Flugzeug aus ab. Kaum ein Landgasthof oder Gemeindehaus, im dem nicht ein Luftbild hängt; kaum ein Firmen- oder Privatnachlass ohne ein solches Foto. Ab 1995 gab es die Luftaufnahme als Bewegtbild für die Massen: Die «Schweiz von oben»-Filme der Firma Swissview liefen auf dem Privatsender Schweiz 4. Zuschauer liessen sich von den schnittlosen und ruhigen Helikopter-Bildern abwechselnd hypnotisieren und zum Orte-Raten animieren.
Heute ist der Blick von oben demokratisiert, sagt Hannes Mangold. «Innert 120 Jahren gelangen wir vom Abenteurer und seinen Bildern zur absoluten Zugänglichkeit der Luftaufnahme.» Tatsächlich folgen tausende Internetnutzer den Instagram-Accounts und Youtube-Kanälen, auf denen private Drohnenpiloten ihre Videos aus der Vogelperspektive hochladen. Auch an diesen Aufnahmen fasziniert wohl, was schon den Schriftsteller Robert Walser an der Ballonfahrt begeisterte: «Man sieht Häuser da unten, so klein, dem unschuldigen Spielzeug ähnlich.»
Ausstellung
Von oben – Spelterinis Ballon und die Drohne
Bis Fr, 28.6.
Schweizerische Nationalbibliothek Bern
TV
Die Schweiz von oben
So, 14.4., 20.15 SWR