Sich auf sich selbst besinnen, nicht in die Ferne schweifen, sondern vor der eigenen Haustüre Schönheit finden. Klingt sehr heutig. Die Ausstellung «Vivre notre temps!» im Kunstmuseum Bern macht deutlich, dass zelebrierte Innerlichkeit bereits im Fin de Siècle im Trend lag. Die Schau, die Meisterwerke aus der Sammlung Hahnloser/Jaeggli vereint, ist als Abschiedsausstellung konzipiert. Denn die Gemälde, die 2017 als Leihgabe nach Bern kamen, kehren nach der Ausstellung zurück in die Villa Flora in Winterthur, die zurzeit noch renoviert wird. Das Paar Arthur und Hedy Hahnloser sammelte namhafte Künstler des Postimpressionismus, mit denen sie teils eng befreundet waren. Im Fokus der von Marta Dziewanska kuratierten Ausstellung stehen die Nabis: eine Künstlergruppe, die 1888 in Paris gegründet wurde und der unter anderem Pierre Bonnard, Maurice Denis, Félix Vallotton oder Édouard Vuillard angehörten.
Aufbruch in Richtung Moderne und Abstraktion
Der Name «Nabis» leitet sich vom hebräischen Wort «Prophet» ab. Schliesslich wollte man in neue Sphären der Malerei aufbrechen, mit Drucktechniken experimentieren und seine künstlerischen Ziele in einer eigens publizierten Zeitschrift zum Ausdruck bringen. Um aufzuzeigen, wie wichtig Paul Gauguins Einfluss auf die Nabis war, werden Lithografien des grossen Symbolisten beigezogen. Gauguin betonte in seinen Darstellungen bretonischer Landschaften und Nonnen nicht mehr die Perspektive, sondern die Flächen selbst. Er brach wie die ihm folgenden Nabis bereits Richtung Moderne und Abstraktion auf. Auch Odilon Redon, ein in seiner Zeit unverstandener Künstler, wird als Einflüsterer der Nabis präsentiert. Das Gemälde «Le rêve» (1908) zeigt einen Blumenstrauss auf einem in seiner Farbigkeit beinahe psychedelisch wirkenden Hintergrund, der sich in Auflösung befindet. Das traditionsreiche Motiv der Blumen wird hier nicht kontextualisiert, sondern erscheint wie ein sublim auftauchendes Bild aus einem Traum.
Am Bildrand kann man eine Frau mit geschlossenen Augen erkennen. «Es ist ein sehr häufiges Motiv bei den Nabis», so Dziewanska, die auf ein Blatt von Mauris Denis verweist, auf dem ebenfalls eine selig schlummernde Schönheit dargestellt ist. Und schliesslich stösst man in der Schau mit Félix Vallottons «Femme nue couchée dormant» (1913) auf ein Ölgemälde, das Linie und Farbe fast mehr noch als den Akt selbst feiert.
Viel Potenzial zur Identifikation
Dziewanska will eine Führung ausschliesslich zu den Frauen auf den Bildern anbieten. «Sie nahmen Teil am intellektuellen Leben, waren viel mehr als Musen und Modelle», führt sie aus. Eine wichtige Protagonistin sei etwa Misia Nathanson gewesen. Édouard Vuillard hat sie von hinten, in einen prächtigen Kimono gehüllt, gemalt – der Japonismus war en vogue. Der Innenraum und das Intime spielten eine grosse Rolle bei den Nabis. Diese Häuslichkeit, der Rückzug ins Private, bietet speziell nach der Pandemiezeit heutigen Betrachtern viel Identifikation: Ein lesendes Mädchen, ein am Tisch sitzender Hund, ein aufwendig ausgestattetes Wohnzimmer, der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen – die Schau vereint Bilder, die wie Echos auf das Hier und Jetzt wirken.
Vivre notre temps! Bonnard, Vallotton und die Nabis
Fr, 13.5.–So, 16.10. Kunstmusem Bern