Der «Budeler» war und ist ein Treffpunkt der Thuner. Auf diesem Chilbiplatz stossen die kleinbürgerliche Welt und die Marktfahrer aufeinander. Der 14-jährige Beat Gyger fühlte sich davon fast magisch angezogen. So auch am 9. Juni 1973, als er ihn wieder einmal heimlich besuchte – und letztmals lebend gesehen wurde. Am nächsten Morgen entdeckten Reiterinnen den Leichnam des Jungen in der Nähe von Schwarzenburg.
Viele Verschwiegene
Die Berner Schriftstellerin Franziska Streun hat die Tat in ihrem neuen Buch «Mordfall Gyger – eine Spurensuche» neu aufgerollt. In protokollartigem Stil schildert sie, wie hilflos die Ermittlungsbehörden dem Verbrechen nachgegangen sind: «Fünf Wochen nach der Tötung von Beat werden zwei verdächtige Personen in Untersuchungshaft genommen. Sie stehen unter dringendem Tatverdacht.» Zu Unrecht, wie sich schnell herausstellt.
Nur im Einzelfall sind die damaligen Beamten bereit, der Journalistin Auskunft über ihre Arbeit zu geben. Eine Schlüsselfigur, der Fahnder F.N., weigert sich beispielsweise, Stellung zu nehmen; er bleibt nicht der einzig Verschwiegene.
Die streckenweise verwirrlichen Ermittlungen vor 40 Jahren interessieren den heutigen Leser nicht mehr so sehr. Viel spannender ist die Schilderung des Milieus, in dem der aufmüpfige Beat Gyger – für seine Eltern war er ein «schwieriges Kind» – aufgewachsen ist.
Spannungen daheim
Streun beschreibt die häuslichen Spannungen zurückhaltend und doch klar: «In den Wochen vor Pfingsten hatte sich das Verhältnis zwischen den Eltern und Beat getrübt. Er hatte begonnen, sie zu belügen und zu hintergehen …» Später: «Beat entglitt ihnen, er hörte je länger, je weniger auf sie.» Der Vater geriet nach der Tat sogar selbst unter den falschen Verdacht der Polizei. Streun schildert mitfühlend, unter welchem Schmerz die Eltern litten, deren Kind Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.
Kritisch wird es allerdings, wenn die Autorin in ihrem Buch heikle Fragen stellt, die sie nicht beantworten kann – etwa hinsichtlich der Thuner «Homo- und Pädosexuellenszene»: «Wurde von einflussreichen Herren, die in diesem Milieu verkehrt haben, ein Skandal verhindert?» Unstatthaft ist, dass Streun Schwule und Pädosexuelle unter Generalverdacht stellt, denn gemäss ihren Recherchen gibt es keine Beweise. Oder konnte die Autorin aus rechtlichen Gründen nicht alles Material veröffentlichen, auf das sie Zugriff hatte? Dann hätte sie das deklarieren müssen.
Franziska Streun
«Mordfall Gyger – eine Spurensuche»
206 Seiten
(Zytglogge 2013).