Natürlich habe auch ich mehr erwartet. Im Minimum ein Meisterwerk. Eines vom Format von Max Frischs «Tagebuch 1946–1949», das so vieles aussagt über die Nachkriegsjahre, über das Handwerk des Schreibens, über die Notwendigkeit und Schwierigkeit, sich schriftstellerisch der Zeit zu stellen. Doch Max Frischs «Berliner Journal», das 20 Jahre gesperrt in einem Banktresor lag und jetzt erschienen ist, kann nicht an dieses grossartige erste Tagebuch anschliessen, auch nicht an das vibrierende zweite: «Tagebuch 1966–1971». Soll man das Frisch im Nachhinein zum Vorwurf machen?
«Nur» Auszüge
Ich erwartete wohl einfach zu viel: einen Frisch, der so brisante, böse oder zumindest pikante Einträge formulierte, dass er sie zu Lebzeiten seinem Umfeld und dem Publikum nicht zumuten wollte. Nun zeigt sich, dass einige Stellen tatsächlich sehr privat sind, so privat, dass sie aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nach wie vor nicht publiziert werden können. Darum, und weil andere Passagen angeblich zu wenig gestaltet sind, legt die Max-Frisch-Stiftung lediglich Auszüge des «Berliner Journals» vor, nämlich die Hefte 1 und 2, die von den Jahren 1973 und 1974 handeln, während über den Inhalt der Hefte 3 bis 5, die bis 1980 reichen, weiter nur spekuliert werden kann. Aber auch in den veröffentlichten Heften finden sich noch zahlreiche Auslassungen.
Warum ein «Journal»?
So erfahren wir zum Beispiel nicht, ob und wie Frisch die Nachricht vom Tod seiner früheren Lebensgefährtin Ingeborg Bachmann am 17. Oktober 1973 verarbeitet hat. Vor allem fehlt einer der wichtigsten Beweggründe, weshalb Frisch das «Journal» überhaupt schrieb, nämlich die Auseinandersetzung mit seiner zweiten Ehefrau Marianne Frisch-Oellers. Beide wollten ihre Beziehung mit dem Umzug nach Berlin wieder beleben. Lesen können wir jedoch, wie Frisch zuweilen von andern Paaren als Eheberater bemüht wurde. Sarkastisch bemerkt er dazu: «Meine Qualifikation dafür: drei vollstreckte Trennungen.»
Erwartungen, eigene und fremde, spielen in dem «Berliner Journal» eine grosse Rolle. Wir können uns den Stellenwert mancher Schriftsteller um 1973 kaum noch vorstellen. Frisch war nicht einfach nur ein Weltstar, er war eine Instanz, wie man sie heute in der Literatur nicht mehr sein kann, eine Instanz über scheinbar unüberwindbare Grenzen hinaus: die zwischen Westen und Ostblock ebenso wie jene zwischen E- und U-Literatur oder zwischen politischer Literatur und in Ich-Form gehaltener Befindlichkeitsprosa. Mit jedem neuen Buch stiegen die Erwartungen. Auch bei Frisch selber, aber gleichzeitig zweifelte er am eigenen Tun, litt darunter, als Erfolgsschriftsteller «am Pranger der Öffentlichkeit» zu stehen, wenngleich dieser Pranger ihm auch Halt gab und ermöglichte, dass er wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit verwöhnt wurde. Die Erwartungshaltung des Lesepublikums hat sich auch nach Frischs Tod nicht geändert. Von jedem aus dem Nachlass veröffentlichten Buch erwarten wir insgeheim, dass der Autor sich darin neu erfindet.
Eingestreute Porträts
Wie lebt man mit dem eigenen Ruhm? Die Frage beschäftigt Frisch im «Berliner Journal». Täglich setzt er sich sechs bis acht Stunden an die Schreibmaschine, in der Hoffnung, sich selber noch zu überraschen. Dasselbe erhofft er sich von Begegnungen. Durch das Buch zieht sich der verzweifelte Vorsatz, ohne Vorsätze zu leben. Er sucht das Gespräch mit Kollegen, in deren Gegenwart die Lust kommt, «Sätze zu bilden, die nicht vorr.äig sind, die einen selber noch überraschen». Nicht von ungefähr gehören die eingestreuten Porträts über Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch, Uwe Johnson oder Wolf Biermann zum besten, was dieses Journal zu bieten hat.
Gedankenexperimente
Oft merkt Max Frisch aber in Gesellschaft, wie er sich nicht mehr zuhört und gerade darum umso mehr trinkt und monologisiert. «Und wenn dann alle nur noch Vorrätiges reden (was brillant sein mag, aber nicht aus dem Augenblick entsteht)», langweilt sich Frisch schnell. Ohne alkoholische Betäubung «hört man lauter Zeug, das zu streichen wäre; diese Pseudo-Lebhaftigkeit mit lauter ready-made-Gedanken, readymade-Geschichten, Repetitionen, unter Intellektuellen der flinke Schlagabtausch von Kenntnissen, ohne dass sie der Entstehung eines Gedankens dienen.»
Mitunter, wenn auch selten, führt ihn das Schreiben ohne Vorsatz im Journal dorthin, wo es wehtut. Besonders ein Eintrag ist heute noch ein Sprengsatz (und vielleicht haben ihn die Rezensenten deswegen geflissentlich überlesen). «Das gesellschaftliche Gewissen ist ein Luxus», behauptet Max Frisch. Wenigstens bei ihm sei das Interesse an der Politik, das soziale Engagement erst mit einem gewissen Wohlstand gekommen. Wird Sozialist, wer privilegiert ist und es sich leisten kann? Als ob ihn die eigene These erschreckt, beendet er den Eintrag gleich wieder. Er wisse nicht, was er habe sagen wollen. Ich wiederum will nur sagen, dass sich die Lektüre des «Berliner Journals» allein schon wegen solcher Gedankenexperimente lohnt. Max Frischs Anleitung zum vorsatzfreien Leben ist ein Luxus, den man sich leisten muss.
Max Frisch
«Aus dem Berliner Journal»
256 Seiten (Suhrkamp Verlag 2014)