«Wohin führt wohl diese chemische Eskalation?», fragt sich Ijon Tichy inmitten monströser Ratten. Tichy hat Benignatoren abgekriegt: Gemütsaufheller, die Kritikern des Militärregimes von Costricana die rosa Halluzinations-Brille aufsetzen. Eben noch diskutierte der Weltraumreisende am futurologischen Weltkongress drohende Zukunftsprobleme – Überbevölkerung, Armut, Klima. Doch die Proteste ums Hilton Hotel und das nicht ganz koschere Leitungswasser machten den Forschern einen Strich durch die Rechnung.
Im akustischen Käfig entstehen Räume
Im Roman «Der futurologische Kongress» beschwor Stanislaw Lem 1972 Probleme herauf, die brandaktuell sind. Heute mutet seine aberwitzige Science-Fiction voller köstlicher Wortschöpfungen wie ein Wink mit dem Zaunpfahl. Das Zürcher Kollektiv Groupe Nous um Patrick Slanzi und Jonathan Bruckmeier nimmt den Stoff auf – und schaltet das Licht aus. Sprichwörtlich: Nach wenigen Minuten sitzt das Publikum im Dunkeln. «Audiogenes Theater» nennt sich die selbstentwickelte Form, bei welcher der Sehsinn unterdrückt und das auditive Erleben geschärft wird.
Slanzi und Bruckmeier, Regisseure und Schauspieler in einem, haben ihr Publikum schon oft unter Schlafmasken auf akustische Reisen geschickt. Nun dunkeln sie den ganzen Raum ab. Das Setting beflügelt die Fantasie und fordert nicht nur die Zuschauer, wie Bruckmeier sagt: «Als Schauspieler in absoluter Dunkelheit zu performen, heisst Neuland betreten.»
Gestartet wird in klassischer Bühnensituation, sobald das Licht ausgeht, übernehmen Klänge die Führung. Neun Boxen und eine Bassbox bilden einen akustischen Käfig, in dem Räume erschaffen, Stimmen manipuliert und Halluzinationen reproduziert werden. Mit diesem 3D-Audio-Setting experimentiert Audiodesigner Markus Kenel jenseits jeglicher Standards, Anleitungen existieren schlicht keine. Mit Lasse Nipkow liefert ein erfahrener Tüftler Inputs – vieles aber bleibt chaotische Lernsituation.
Kritisches Stück ohne Zeigefinger
Um die Kanalisation hörbar zu machen, in die der Protagonist im Roman flüchtet, liess Kenel im väterlichen Kuhstall die Wasserhahnen tropfen und zeichnete dies mit neun Mikrofonen auf. In solche Klangkulissen legt er später Musik und live gesprochene Stimmen, die sich subtil überschneiden, umspielen und verschmelzen. Bald wähnt man sich im Zappendusteren selbst am Halluzinieren, wären da nicht nostalgische Sci-Fi-Töne, die Nicolas Balmer dutzenden Synthesizern entlockt. Dieser Anker ist bitter nötig, denn die Eskapaden des Protagonisten pendeln zwischen naher und ferner Zukunft, lassen Realität und Traum verfliessen.
Als der Protagonist im Jahr 2039 landet, in dem Wohlstand herrscht und alle Probleme überwunden scheinen, wird gar die Grenze zwischen Dystopie und Utopie elastisch. Ob Klimakatastrophe oder alternative Fakten: Stanislaw Lem war der Zeit voraus. Groupe Nous folgt stringent seiner Vorlage. Den Zeigefinger aber vermeiden sie, um die Poesie des Texets zu bewahren.
Der futurologische Kongress
Premiere: Fr, 18.10., 20.00 Hyperlokal Zürich
Weitere Vorstellungen: So, 20.10.; Mo, 21.10.; Mi, 23.10.; So, 27.10., jew. 20.00
www.groupenous.org