Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich bin, gelinde ausgedrückt, skeptisch, was die Zukunft der Menschheit betrifft. Ich fürchte, spätestens in 30 Jahren werden wir diesen Planeten gänzlich zugrunde gerichtet haben. Das Ende des Buches sehe ich noch früher: In 10, allerhöchstens 20 Jahren wird es in der Form, wie wir es heute kennen, verschwunden, nur noch als Sammlerstücke und Zeugnisse einer vergangenen Zeit in Bibliotheken (öffentlichen und privaten) und Museen zu finden sein. Wir alle, die wir Bücher lieben, rufen jetzt noch im Brustton der Überzeugung: «Solange ich lebe, werden Bücher ein Teil meines Lebens sein!» – Der Haken an der Sache ist nur: Wir leben nicht ewig. Sollen wir uns gegen den Untergang des Buches (ich rede vom auf Papier gedruckten Buch, nicht einem digitalisierten Text) wehren, uns gegen das Verschwinden dieses wunderbaren Kulturguts stemmen? Ja, das sollten wir! Und wir sollten uns gleichzeitig der Nutzlosigkeit, ja Lächerlichkeit unseres Widerstands bewusst sein. Wir Bibliophilen trauern um das Buch, wie damals um Pferdekutschen getrauert wurde: Viele Menschen vermissten das Hufgetrappel, das Schnauben und Wiehern, den Geruch der Tiere. Der Rest begrüsste den Fortschritt, das schnelle Vorwärtskommen im Automobil, die von Pferdeäpfeln befreiten Strassen. Wer nicht mit der Zeit gehen mochte, galt als hoffnungsloser Romantiker, als Träumer, als Gegner neuer Technologien. Ich hätte damals vermutlich auch den Pferden nachgetrauert – bei allem Interesse für tolle Erfindungen.

Ich kann mir eine Welt, ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen. Genauer gesagt: Ich kann es mir vorstellen, aber mir wird bei dem Gedanken elend zumute. In meiner Bibliothek stehen Hunderte von Büchern, die sich in etwa 40 Jahren angesammelt haben. Etwas mehr als die Hälfte davon habe ich gelesen, die übrigen warten noch darauf, dass ich Zeit für sie finde. Und es kommen ständig neue dazu. Ich weiss nicht, wie viele Seiten in ­einen E-Reader passen, aber bestimmt zehntausende. Wahrscheinlich würden alle meine Bücher in wenigen Lesegeräten Platz finden. Diese Lesegeräte stelle ich mir in meinem 5 mal 2,5 m grossen Bücherregal im Wohnzimmer vor. Nur die Lesegeräte, keine Bücher. Muss ich betonen, dass die Vorstellung grauenhaft ist, so absurd, dass mir das Lachen im Hals stecken bleibt? Wie soll ich in einem Lieblingsbuch blättern? Wie soll mich ein Ding aus Metall und Glas an vergangene Zeiten erinnern, wie es ein Buch mit seinem Geruch, seinen Eselsohren, seinen Kritzeleien am Rand, seinen Kaffeeflecken, abgestossenen Ecken und zerknitterten Einbänden kann? Wie soll ein Gedicht von William Carlos Williams auf mich wirken, wenn ich kein Papier berühren, kein Rascheln hören, keine Druckerschwärze und keinen Staub und keine verstrichene Zeit riechen kann? Soll ich statt Bücher Porzellanfiguren, Vasen und Bilderrahmen in die Regale stellen, literarische Schätze durch Nippes ersetzen? Alleine der Gedanke deprimiert mich dermassen, dass ich am liebsten sofort jedes einzelne Buch in die Hände nehmen und ihm meine uneingeschränkte Solidarität zusichern möchte!

Ob ich das gänzliche Verschwinden des Buches in seiner jetzigen Form noch erleben werde, weiss ich nicht. Wenn ich Glück habe, werde ich keine 90 Jahre alt und bin längst unter der Erde, wenn das letzte Buch durch ein paar Bits oder Bites ersetzt wird. Bis dahin werde ich weiter Bücher kaufen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit für das Buch werben – auch wenn mir klar ist, dass bald nach der letzten Buchhandlung auch die Bücher selber aus unserem Alltag verbannt sein und durch etwas ersetzt werden, das unheimlich praktisch ist, aber auch unheimlich leblos. Dann tröstet mich dieser Gedanke: Überall auf der Welt gibt es Menschen wie mich, die private Bibliotheken besitzen. Es wird wahrscheinlich Romantiker, Träumer und Spinner geben, die kleine Verlage gründen und auf Papier gedruckte Bücher herausgeben, die sie an andere Romantiker, Träumer und Spinner verkaufen. Und wer weiss, vielleicht machen wir Buchliebhaber uns umsonst Sorgen, und das Buch ist so wenig totzukriegen wie die Vinylschallplatten, denen man noch vor wenigen Jahren bereits das Grab geschaufelt hatte. Letztlich hängt die Zukunft des Buches auch davon ab, was die nächsten Generationen von diesem scheinbar veralteten Medium halten, ob die Kinder und Jugendlichen in 10, 20 Jahren noch Zugang zu «richtigen Büchern» haben und einen Teil ihrer Zeit mit Lesen verbringen werden. Gut möglich, dass junge Menschen im Jahr 2030 amüsiert den Kopf schütteln, wenn sie von bedruckten Papierbündeln hören, die mit Leim und Faden zusammengehalten wurden, zwischen Deckeln aus Pappe und Leinen steckten und durch die man sich umständlich blättern musste. Doch ebenso gut möglich ist es – und damit widerspreche ich mir gerade selber –, dass Bücher trotz aller düsteren Prognosen überleben werden. Wir müssen nur jedem Kind ein Buch vor die Nase halten, bevor es ein iPhone, einen Tablet-PC oder einen Laptop sieht. Wir müssen sie auf den Geschmack bringen, anfixen, abhängig machen. Ich wurde als kleiner Junge lesesüchtig gemacht, und ich bin es heute noch. Und ich bin davon überzeugt, dass wir auch kommende Generationen zu Literatur-Junkies und Book-Aholics machen können, egal, was irgendwelche Pessimisten behaupten!

Rolf Lappert, 1958 in Zürich geboren, wuchs Rolf Lappert in Olten und Zofingen auf. Der gelernte Grafiker veröffentlichte in den 80er-Jahren erste
Romane und Gedichte. Danach ­arbeitete er als Dreh­-buch­autor, gründete mit einem Freund einen Jazz-Club, ­bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. 2008 erhielt er für den Roman »Nach Hause schwimmen« den ersten Schweizer Buchpreis. Sein letzter ­Roman «Pampa Blues» wird demnächst für das Fernsehen verfilmt. Nach mehr als 20 Jahren im Ausland lebt Lappert seit 2011 wieder in der Schweiz.